„Kebab Külüb“ ist ein geheimer Ort. Niemand kennt ihn, außer Armir, und der ist elf. Armir hat den „Kebab Külüb“ erschaffen, und er hat dafür nicht sehr viel gebraucht, eigentlich nur einen Edding und ein bisschen Langeweile. Er hätte sich Zeit lassen können, aber er hat es dann doch recht schnell durchgezogen. Man weiß ja nie. Jetzt gibt es ihn jedenfalls, den „Kebab Külüb“. In großen Buchstaben steht der Name auf dem Holzpavillon, gleich neben dem Spielplatz. Ein langer Tisch und zwei Bänke stehen darunter, es ist schattig und sieht sehr gemütlich aus. Kebab gibt es halt keinen und auch keine Familie, keine Freunde, keine Spielgefährten, die „Mit allem und mit scharf“ mitspielen wollen.
Es gibt Armir. Und er ist immer hier, wenn das Wetter passt. Er wohnt einmal ums Eck, einmal über die Sonnwendstraße drüber, einmal vorbei an den Internet-Cafés, den Friseurläden und Ein-Euro-Shops, und der Helmut-Zilk-Park gehört zu seiner Hood. Nach der Schule hängt er hier ab, zwischen Spielplatz und Wiese und seinem Kebab-Klub, mal hat er das Rad mit, mal einen Ball, meistens aber nur den Haustürschlüssel und sein Handy.
Willkommen im Helmut-Zilk-Park, in der neuen, von Stadtplanern erschaffenen grünen Welt neben dem neuen, von Architekten erschaffenen Areal des Hauptbahnhofes. Sieben Hektar, also ungefähr zehn Fußballfelder, ist er groß, es gibt einen neuen, weitläufigen und modernen Spielplatz, es gibt Rasen und Wildwuchs, Hundezonen und Gemeinschaftsbeete; es gibt Bänke und Sonne, weil die Bäume erst wachsen müssen, und wenn man so will, dann gibt es im jüngsten Park Wiens auch gleich ein Projekt für Soziologen und Stadtforscher dazu: Das Sonnwendviertel auf der einen Seite des Parks ist ein ganz neues Stadtviertel für 13.000 Bewohner, allesamt Menschen mit höheren Einkommen, oder zumindest so viel Rücklagen, dass sie sich Eigentumswohnungen mit Quadratmeterpreisen von 4.500 Euro aufwärts leisten können. Auf der anderen Seite liegt der nicht ganz so schicke Arbeiterbezirk Favoriten, in dem der Mundl als echter Wiener über Jahre nicht unterging, der Ausländeranteil bei 40 Prozent liegt, die FPÖ regelmäßig am 30-Prozent-Wähleranteil kratzt und drei Prozent ein
Studium abgeschlossen haben. Im Sonnwendviertel haben 59 Prozent einen Studienabschluss.
Im Park treffen sie alle aufeinander, denn in den Park müssen sie alle, mit den Kindern und mit den Hunden, und auch, weil es einfach gut ist, dass es an diesem Ort endlich eine Grünfläche gibt, die es vor der Umplanung einfach nicht gab. Armir, der 11-jährige Kurde mit den langen Wimpern und den schwarzen Wuschelhaaren ist hier genauso unterwegs wie der blonde, pausbäckige Leon, neun Jahre alt, mit den hellbraunen Augen und seiner Mutter Sonja an der Hand.
Es ist einer dieser brennheißen Tage im Juni. Sonja, 39, sitzt mit Leon auf der Terrasse des „Café Mann“ und trinkt eine Limonade „mit wenig Zucker und viel frischer Minze“. Sie ist groß und blond und so gekleidet, dass man sie bis vor kurzem dem Klischee folgend nicht Favoriten, sondern eher Döbling oder Neubau oder auch Wien-Wieden zugeordnet hätte, und genau da hat sie bis vor kurzem auch gewohnt. Vor einem Jahr ist sie mit ihrem Partner Tim und ihrem Sohn hierhergezogen, im vierten Bezirk war die Wohnung zu klein, auch zu viel Verkehr und zu wenig Grünfläche. Außerdem wollten Sonja und Tim keine Miete mehr bezahlen, sondern die Wohnung, in der sie wohnen, auch besitzen. Sonja trinkt ihre Limonade und wirkt sehr zufrieden mit der Entscheidung. Auf der linken Seite ziehen unfertige Rohbauten auf, rechts reihen sich karge Neubauten aneinander. Viele Freunde, erzählt Sonja, hätten von dem Umzug abgeraten. Zu gefährlich sei Favoriten, zu steril das neue Viertel. „Alles Blödsinn“, sagt Sonja und lacht.
Wenn man so will, dann sind Sonja, Tim und Leon so etwas wie die typischen neuen Favoritner: Eine Jungfamilie mit meist ein, zwei Kinder; überdurchschnittliches Einkommen, überdurchschnittlich gebildet, aus dem Ausland oder einem der Innenstadtgrätzel hierher in den 10. Bezirk gezogen. Aber das Sonnwendviertel, sagt Sonja, sei eigentlich nicht der 10. Bezirk. Also auf dem Papier, ja, aber eigentlich sei es etwas Eigenständiges. Ein Bezirk im Bezirk, in dem es Gemüsebeete und Dachgärten gibt, Tanz- und Yogastudios, Co-Working-Spaces und Restaurants mit Glasfronten und goldenen Leuchten darin. Ein Bezirk, den man eigentlich nicht verlassen müsste. Höchstens zum Einkaufen, denn Bioläden, die gibt es hier noch nicht, und ja, auch einen Bäcker, so wie den Joseph im siebten Bezirk, den wünschten sich hier viele. Aber das kommt noch, und überhaupt müsse man abwägen, wo findet man schon eine Wohnung mit Parkblick? „Für die Kinder ist das ein Traum.“
Sonja ist eine fröhliche Frau. Oft übernimmt sie das Reden für ihren Sohn. Sie spricht dann im Plural, sagt so etwas wie „Wir hatten noch Nachmittagsunterricht“ und am Ende: „Gell, Leon?“ Der Park ist für Leon nicht nur ein Stück Rasen in der Stadt, er ist ein Stück Freiheit. Hier darf er mit seinen Freunden auch mal ohne Aufsicht der Eltern sein. Aber, sagt Sonja, vom Balkon aus können wir ja ein Auge auf sie werfen.
Es ist schwer abzuschätzen, wie sich das Sonnwendviertel entwickeln wird. Noch nie wurde ein Bauprojekt dieser Größe so nah an bestehenden Lebensraum gebaut.
Armirs Welt beginnt dort, wo die von Leon aufhört: Das ist die Fußgängerzone in der Favoritenstraße, zwischen Keplerplatz und Hauptbahnhof, dort, wo FPÖ und SPÖ oft ihre Wahlkämpfe abschließen, der Anteil von Fake-Lederjacken und Kinderschuhen, die beim Gehen blinken, überdurchschnittlich hoch und die Frisur ein wesentliches Distinktionsmerkmal ist. Es gibt hier die türkischen Männer mit Tee auf der Straße, es gibt Beisln, in denen auch um elf Uhr Vormittag schon Party ist. Es gibt das Puff mit abgedunkelten Scheiben,
und Armirs Kinderzimmer zwei Stockwerke darüber. Armirs Mutter kommt nicht in den Park. Aber um acht Uhr, wenn sie ihre Schicht im Supermarkt beendet, müssen Armir und sein Bruder Onur zu Hause sein.
Onur, der zwei Jahre älter ist, sitzt neben Armir im „Kebab Külüb“. Gegenüber Yigit und Halil. Seit einem Jahr kommen sie hierher. „Immer nach der Schule“, sagt Armir, „auch im Winter.“ Aus einem der Handys schallt deutscher Gangsta-Rap. „Mero“, sagt Armir, zeigt auf den Bildschirm und klopft sich mit der flachen Hand auf die Brust. „Er ist Kurde – wie wir.“ Armir ist selbstbewusst für einen Elfjährigen, er spricht mit lauter, kräftiger Stimme. Jedes Wort unterstreicht er mit einer großen Geste.
Wenige Gehminuten von dem Park entfernt liegt die Neue Mittelschule Leibnizgasse, eine Schule, in der der Großteil der Kinder sogenannten Migrationshintergrund hat, und dort geht Armir in die Schule. Er geht in die erste Klasse. Vom Wiener Stadtschulrat wurde die Leibnizgasse als „Brennpunktschule“ eingestuft, und was das bedeutet, lässt man sich vielleicht am besten von Rapper Nazar erklären, der im Laufe seiner Schulkarriere auch für einige Zeit in der Leibnizgasse Station gemacht hat: Er bezeichnete die Schule vor einigen Jahren als „Brutstätte des Verbrechens“, weil sich dort schon zu seiner Zeit jede Menge Banden gebildet hatten und den Nachwuchs für die eine oder andere Gangsterei requiriert haben.
Armir ist gut in der Schule, in Deutsch und in Englisch sogar der Klassenbeste. Nur Mathe mag er nicht so, das werde er aber später auch nicht mehr brauchen, sagt er, denn später, da möchte er Hundeverkäufer werden.
Hundeverkäufer will Leon wohl eher nicht werden, und er wird auch nicht in der Leibnizgasse Station machen, eher auf einem Gymnasium, eher in einem Innenstadtbezirk. Zur Zeit geht er in die Elisabeth-Volksschule im vierten Bezirk, eine Schule, die der Stadtschulrat als begabungsfördernde Schule klassifiziert, eine Schule, in der Montessori nicht nur die Umschreibung dafür ist, dass man einfach darauf scheißt, ob die Kinder halbwegs richtig lesen und schreiben lernen. Leons Eltern haben ein Studium abgeschlossen, sie Psychologie, er Maschinenbau. Geht es nach der Statistik, wird Leon mit großer Wahrscheinlichkeit auch studieren, weil Bildungskarrieren sich in Österreich sehr oft fortschreiben. Die Chance, dass Armir einmal studiert, ist deutlich geringer. Nur sieben Prozent der Kinder von Eltern, die nur einen Pflichtschulabschluss haben, absolvieren auch eine Universität. Neben dem Bildungsgrad der Eltern ist auch der Wohnort ausschlaggebend für die Karriere des Kindes. Und der alte Teil von Favoriten, also die Gegend südwestlich des Helmut-Zilk-Parks, der ist derzeit noch eher nicht so mit dem Campus von Harvard zu vergleichen.
Aber vielleicht ändert sich das ja, vielleicht strahlen die anderen, die neuen Favoritner ab? Wenn die Kinder miteinander spielen und sich anfreunden, wer weiß, was dann passiert?
Noch ein heißer Tag im Juni, wieder im Helmut-Zilk-Park. Frauen mit Kopftuch sitzen im Rasen, daneben schieben Väter in Hemden die Kinderwagen vor sich her. Es gibt die Jungs mit den Bauchtaschen und die Mädels in den engen Leggings, und zumindest die eine Kategorie dreht sich regelmäßig nach der anderen um. Aber eben nur auf den ersten Blick. Sieht man genauer hin, werden auch hier die Gruppierungen augenscheinlich. Die Frauen mit Kopftuch und die Männer in Hemden bleiben auch unter sich.
„Das ist normal“, sagt der Soziologe Christoph Reinprecht. Er forscht zu sozialem Wandel und städtischen Nachbarschaften in Wien, und seit einigen Jahren forscht er auch zu dem Sonnwendviertel. Menschen, sagt er, umgeben sich eher mit ihresgleichen. Überall auf der Welt sortieren wir uns nach Lebensstil, Bildung und Vermögen. Sozialer Austausch muss nicht gleich eine Multikulti-Sause bedeuten. „Es ist schwer abzuschätzen, wie sich das Sonnwendviertel entwickeln wird“, sagt er, noch nie wurde ein Bauprojekt dieser Größe so nah an bestehenden Lebensraum gebaut. Bis jetzt, so der Soziologe, wurde weder jemand verdrängt, noch wurde die Umgebung aufgewertet. Das Sonnwendviertel wäre wie eine eigene Welt.
Aber ist es schon das „neue Wohnzimmer für alle Favoritner“, das Umweltstadträtin Ulli Sima bei der Eröffnung im Vorjahr angekündigt hat?
Eine Querstraße zur Sonnwendstraße, drei Gehminuten von dem Park entfernt, liegt das Gasthaus Lendl. An diesem Tag ist die kleine Gaststube mit ihren vier Tischen fast leer. Nur vorne an der Theke lehnen ein paar Typen, denen man anmerkt, dass sie sehr viel Tagesfreizeit haben. Und dass sie auch kein Problem damit haben, schon am Vormittag Bier zu trinken. Draußen hat es 30 Grad, drinnen ist es finster und kühl und Christa, die Chefin, schenkt hinter dem Tresen ständig nach.
Ist es nicht super, dass sich in der Gegend so viel ändert? Werner, einer der Männer am Tresen, vergilbter Schnauzbart, aschweißes Haar, kann sich fast nicht einkriegen wegen dieser Frage: Sein Favoriten, das gebe es nicht mehr. Die Gasthäuser, die kleinen Greißler, die Gemütlichkeit, all das ist verschwunden. Überall nur noch Zugezogene. Das sind die Ausländer, und seit kurzem sind das auch „die Gstopften“ vom Sonnwendviertel. Und die würden immer nur arbeiten und in Gasthäuser wie das Lendl würden sie sowieso nicht kommen.
Die vom Sonnwendviertel, scherzt man hier, würden sich nach Indien trauen, nicht aber über die Sonnwendstraße. Und seit kurzem hätten sie dort einmal in der Woche einen dieser Märkte. Bio-Gemüse könne man dort kaufen und vier Euro für eine Gurke zahlen. Eine Frechheit! „Früher, da war alles bio“, sagt Christa. Was sie eigentlich meint: „Früher, da war alles besser.“
Die Wände im Lendl sind so vergilbt wie die Jeanshosen der Besucher, und an der Wand hängen Fotos von jubelnden und feiernden Menschen, daneben ein Schild mit der Aufschrift „Rapid österreichischer Meister 1982“. In Favoriten? Im Heimatbezirk der Wiener Austria? Offenbar dürften sie es im Lendl also ohnehin gewohnt sein, eine Minderheit in der Nachbarschaft zu sein.
Das wird sich jetzt wohl noch verstärken.
Erschienen im Sommer 2019. Fleisch 52, bestellbar im Abo oder als Einzelheft unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!