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Fleisch 59, Frühjahr 2021 
Text: Johanna Brodträger

Wenn es draußen warm wird, kommt sie wieder und wenn sie wieder kommt, reden wir über sie. Weil wir nicht anders können, weil sie nervt, ihre Stiche wehtun, sie uns um den Schlaf bringt. Und dann dieses Geräusch. Die Gelse: Einer unserer kleinsten Feinde. Heft nehmen und losschlagen!

 

Der perfekte Sommertag ist an seinem Ende, auch wenn es jetzt völlig daneben klingt, ein Tag von Unannehmlichkeiten: Die Haare verknotet vom Chlor, die Haut klebt wegen der Reste der Sonnencreme und die Luft, na ja, die Luft riecht ein bisschen nach Alkohol. Weil wann bleibt es schon bei einem Sun­downer? Und weil solche Tage, an denen man eigentlich gar nichts tut, verdammt anstrengend sind, die anstrengendsten fast, ist es nachvollziehbar, wenn sich die schnelle Dusche nicht mehr ausgeht. Wenn man sagt, pfeif drauf, Fenster auf und Licht aus. Aber gerade an diesen anstrengenden Tagen, an denen man fix und foxi ist, an denen man Ruhe braucht und vor allem Stille, das sind leider diese Tage, an denen man in der Nacht ganz bestimmt nicht alleine bleibt.

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Sie ist wieder da: Die Gelse. Und eigentlich ist das der Zeitpunkt, an dem man für den nächsten Tag schon alles absagen kann. Außer man ist neben einer Baustelle groß geworden. Oder sturzbesoffen. 

Die Gelse ist ein merkwürdiges Tier. Merkwürdig nicht unbedingt deshalb, weil sie nervt und uns wehtut, das tun andere Tiere ja auch und Menschen sowieso. Viel eher deshalb, weil wir gar nicht so viel über sie wissen. Aber klären wir zuerst ein paar Fakten: Die Gelse, beziehungsweise die Mücke, war schon lange vor uns da. Es gab sie bereits, als Dinosaurier gelebt haben (das ist wirklich keine Legende aus Jurassic Park). Und sie hat es wirklich geschafft, sich bis heute überall durchzusetzen. Also fast. 3.600 Stechmückenarten gibt es weltweit und die einzigen zwei glücklichen Flecken, die tatsächlich mückenfrei sind, sind die Antarktis und Island. Wir in Österreich dagegen dürfen uns mit 50 verschiedenen Arten beschäftigen. Am meisten auf die Nerven geht uns statistisch gesehen die Hausgelse, das ist die, die so penetrant hoch sirrt. Aber sollte die mal ausfallen, springt gerne auch die Überschwemmungs- oder Anophelesmücke ein. 

Die Gelse ist wie das Wetter. Also vor allem dann, wenn man darüber nachdenkt, worüber wir uns so unterhalten. Gelsen und Wetter. Wenn wir diese Klimawandelgeschichte mal außen vor lassen, sind das die beiden Themen, über die wir, sobald es über 20 Grad kriegt, viel zu viel sprechen. Es gibt da jetzt keine empirischen Untersuchungen, auf die man sich stützen kann, aber wie wertvoll waren die letzten zehn Gespräche über Gelsen, Gelsenabwehr, Gelsenlichter, Gelsendippel, Gelsenmittel, Gelsen­kirchen? Eben. Umso mehr muss aber diese große Frage diskutiert werden: Wie zum Teufel schafft es ein 2,5 Milligramm leichtes Tier, uns so brutal auf den Zeiger zu gehen?

Wie sehr uns die Gelse beschäftigt, zeigen auch ein paar Zahlen: Allein im vergangenen Jahr schrieben die größeren Zeitungen in Österreich über hundert Mal über die Gelse. Die Tausenden Online-Beiträge, die alle mehr oder weniger mit dem Titel „Gelsen: Was hilft wirklich?“ rausgespielt wurden, noch gar nicht mitgezählt.

Anruf bei einer Frau, die es wissen muss: Karin Bakran-Lebl arbeitet am Institut für Parasitologie an der Veterinärmedizinischen Universität in Wien und forscht seit vielen Jahren über die Gelse. Sie sagt ziemlich nüchtern: „Die Gelse ist prinzipiell schlecht für alle, die sie sticht.“ 

Wie sehr uns die Gelse beschäftigt, zeigen auch ein paar Zahlen: Allein im vergangenen Jahr schrieben die größeren Zeitungen in Österreich über hundert Mal über die Gelse. Die Tausenden Online-Beiträge, die alle mehr oder weniger mit dem Titel „Gelsen: Was hilft wirklich?“ rausgespielt wurden, noch gar nicht mitgezählt. Erst vor kurzem ist außerdem ein ziemlich erfolgreiches Buch über, richtig, die Gelse erschienen: „Die Mücke“ von Timothy C. Winegard. Auf 600 Seiten erzählt der Historiker nicht weniger als die Menschheitsgeschichte anhand der Stechmücke neu. Spoiler: Beim Aussterben der Dinosaurier hätte die Gelse Mitschuld gehabt. Und Frau Bakran-Lebl war zum Beispiel auch auf einer ziemlich ausführlichen Podiumsdiskussion im Museum Niederösterreich zu Gast. Titel: „Die Gelse – Plage oder Notwendigkeit?“ Diese Diskussion, die man sich nachträglich auch auf YouTube ansehen kann, ist vielleicht nichts für Gelseneinsteiger. Aber irgendwann sagte Dr. Bakran-Lebl auf die Frage eines Mannes, der davor über seine Kindheit im Marchfeld und zentimeterdicken Autan-Schutz referiert hatte, ob sie nicht schön langsam ein bisschen Sympathie für die Gelsen aufgebaut hätte, einen Satz, bei dem die meisten nicht widersprechen würden. Nämlich: „Am liebsten sind sie mir trotzdem tot.“ 

An zwei Dingen, da kommt man, egal, was man studiert hat, nicht vorbei: Dem Sirren und dem Stich. Im Schlafzimmer gipfelt das in einem Dramolett in mehreren Akten.

Akt 1 – Verweigerung: Die Gelse wird gehört, aber ignoriert.

Akt 2 – Rückzug: Abtauchen unter die Decke, unruhiger Schlaf, weil heiß und wenig Luft.

Akt 3 – Schmerz: Das Tier sticht auch durch dünne Decken und sticht dorthin, wo es besonders wehtut (Fingergelenke, Gesicht, Zehen).

Akt 4 – Sehnsucht: Das Sirren geht weiter. Blick auf die Uhr, sehr spät, sehr müde. 

Akt 5 – Angriff: Nach mehreren Stunden Tatenlosigkeit bereit für den Kampf. Aber wo ist sie denn jetzt?

Fühlt man sich überlegen, konzentriert man sich immer auf sich selbst, in der Verzweiflung probiert man eher, den anderen zu durchschauen. Das ist in der Politik genauso wie im Sport und wahrscheinlich sogar bei einem bescheuerten Mitbewohner. Kenne deinen Feind, heißt das. Bei der Gelse würde das dann bedeuten: Kenne deine Feindin. Im Mückenuniversum steht nämlich die Frau im Mittelpunkt. Gelsenmänner sind bei dem, worum es hier geht, ziemlich irrelevant. Die stechen nämlich nicht. Das Einzige, was sie in ihrem Leben tun, ist schlüpfen, bestäuben, begatten und wieder sterben. Da ist es umso ärgerlicher, dass die Gelsenfrau nur deshalb so nervig herumsirrt, weil sie ein Männchen anlocken will. Jedenfalls: Die Gelsenfrau will unser Blut. Das braucht sie nämlich, um ihr Gelege zu produzieren, in dem sie ihre Eier ablegt. Hat sie Lust auf Menschenblut (manche bevorzugen das von Tieren, zum Beispiel von Vögeln oder Amphibien), hat sie auch einen Typ: Menschen mit Blutgruppe 0 haben am meisten Pech, weil die werden statistisch gesehen doppelt so oft gestochen wie zum Beispiel die mit Blutgruppe A. Biertrinker und stinkende Füße finden sie im Zweifel übrigens auch ganz toll, was nicht so schlecht zu wissen ist. 

Das Blöde ist: Die Wissenschaft ist sich da recht uneinig, genauso wie die Online-Ratgeber und auch die Großmütter, die alte Wissenschaft sozusagen. Kühlen, erhitzen, nicht kratzen, die Mitte aufkratzen, ein Kreuz rein, einen Stern vielleicht; was hat man alles schon gehört. Alles vor dem Stich wirkt dafür ein bisschen klarer. 

Den juckenden Stich gibt uns die Gelse also wenig überraschend nicht aus purer Gehässigkeit, sondern aus reinem Lebens- und Vermehrungstrieb. Sie kann nicht anders. Und wir können nicht anders, als zu erzählen, wie verrückt diese Jagd wieder war, gestern Nacht. Oder könnt ihr euch erinnern, wie zerstochen wir von dieser einen Grillfeier zurückkamen? Aber sicher doch. 

Den Stich der Gelse, das, was uns die Dippel beschert, das Jucken, die angeschwollenen grausligen Stellen, wie dieser Stich genau funktioniert, auch das könnte man jetzt lang und breit erklären aber wen interessiert das schon, wenn man sich darüber unterhalten kann, was dagegen hilft? 

Das Blöde ist: Die Wissenschaft ist sich da recht uneinig, genauso wie die Online-Ratgeber und auch die Großmütter, die alte Wissenschaft sozusagen. Kühlen, erhitzen, nicht kratzen, die Mitte aufkratzen, ein Kreuz rein, einen Stern vielleicht; was hat man alles schon gehört. Alles vor dem Stich wirkt dafür ein bisschen klarer. Weil es zum einen natürlich auch ein paar Leute gibt, deren Geschäftsmodell unser Ärger und Schmerz ist, Vandal zum Beispiel, die Nummer eins am österreichischen Ungeziefermarkt, oder SC Johnson, zu dem Autan gehört, das weltweit die meisten Gelsen triezt. Zum anderen sagen Experten, dass es eigentlich nur drei taugliche Wirkstoffe gibt: DEET, Icaridin und PMD. Letzteres ist nichts anderes als ätherisches Zitroneneukalyptusöl. Die Verwendung, heißt es, sei aber nicht ganz unbedenklich, weil diese Mittel nicht nur Gelsen abwehren, sondern auch die Schleimhäute reizen. 

Vielleicht ist unsere Hilflosigkeit auch der Grund, warum wir es nicht lassen können, uns an der Gelse und dem, was sie anrichtet, abzuarbeiten. Wir probieren immer weiter, auch wenn wir wissen: Das Knoblauchbrot beim Grillen hilft genauso wenig wie die Citronella-Kerzen und diese Ökosprays oder Ultraschallgeräte, die man sogar als Schmuck um das Handgelenk tragen kann.

Es gibt aber eine Sache, die man zwischen all dem Jammern über juckende Kniekehlen und unruhige Nächte keinesfalls aussparen darf. Gelsen sind woanders auf dieser Erde nämlich wirklich ein großes Problem. Schätzungsweise sterben jährlich zwischen 700.000 und einer Million Menschen am Stich der Gelse, vor allem in Afrika und Südasien. Der Historiker Timothy C. Winegard erklärt die Mücke in seinem vorher erwähnten Buch für den „weltweit gefährlichsten und tödlichsten Feind des Menschen“. Es ist aber nicht der Stich selbst, der unmittelbar tötet; es ist die Spucke, mit der uns gewisse Arten der Gelse anästhesieren, die Krankheiten (Malaria, Dengue-Fieber, Zika-Virus, Gelb­fieber, West-Nil-Virus) übertragen und damit wirklichen Schaden anrichten.

Zusammenfassend kommt dieses Tier, egal, wie wir es betrachten, wirklich nicht gut weg. Aber wenn man über die Grundzüge der Biologie und der Artenvielfalt nachdenkt, drängt der Optimismus. Das Tier muss doch auch für irgendetwas gut sein. Wespen sind ja auch unangenehm, aber wir tolerieren sie, weil sie für uns Blüten bestäuben; Spinnen finden wir grauslich, aber die lassen uns zumindest in Ruhe (und vernaschen übrigens auch gern die eine oder andere Gelse). Also, liebe Welt, wozu gibt es jetzt die Gelse? 

Aber von dem mal abgesehen: Was reißt uns da jetzt raus aus dieser Plage? So absurd das klingt, es ist mit ziemlicher Sicherheit Bill Gates.

Nochmalige Nachfrage bei der Gelsen-Expertin Karin Bakran-­Lebl. „Die Gelse hat tatsächlich erstaunlichen Nutzen im Kreislauf der Natur“, sagt sie. Gelsenlarven würden Wasser reinigen und sind ein wichtiges Futter für Libellenlarven. Libellen wiederum werden gerne von Vögeln gefressen und so geht das dann weiter. Außerdem sei sie eine versierte Bestäuberin. „Ohne sie würde es zum Beispiel für das Ohrlöffel-Leimkraut nicht gut aussehen“, so die Expertin. 

Stimmt schon, ein bisschen schade wäre es um das Ohrlöffel-­Leimkraut. Aber von dem mal abgesehen: Was reißt uns da jetzt raus aus dieser Plage? So absurd das klingt, es ist mit ziemlicher Sicherheit Bill Gates. 75 Millionen Dollar hat die „Bill & Melinda Gates Foundation“ schon in die gentechnische Stechmückenforschung gesteckt. Mithilfe eines komplizierten Verfahrens wollen sie die von Gelsen übertragbaren Krank­heiten, allen voran Malaria, eliminieren. Und es ist der Forschung sogar bereits gelungen, die DNA der Gelse zu manipulieren, womit sich eine weitere Tür aufmacht, die, zugegeben, ein bisschen radikal ist: Nämlich gleich die ganze Spezies auszurotten. 

So schnell wird das aber sicher nicht passieren. Wenn wir die Klimakrise in ein paar Jahren auch in Österreich stärker spüren, werden sich nämlich sogar neue Gelsenarten bei uns ansiedeln. Dummerweise auch gefährlichere. Dafür gibt es schon ein Gelsen-Monitoring-Programm von der AGES und Citizen-Science-Projekte wie „Mosquito Alert“. Sie sollen dabei helfen, früh genug mitzubekommen, sollten sich tatsächlich gefährliche Arten rasant vermehren. 

Aber bis wir darüber abendfüllend diskutieren, werden wir noch einige Male darüber sprechen, wie wir in unseren Schlafzimmern auf die Jagd gingen. Wie laut das Vieh war, wie hinterhältig auch, und wie das war, als man endlich aufstand und das Tier sich dann meisterhaft tarnte. Und selbst wenn die Trophäe dann endlich an der Wand leuchtet, dieser helle, verschmierte Blutfleck, gibt es keine Garantie für erholsamen Schlaf. Weil meistens, und das ist ja der Wahnsinn, kommen sie nicht allein.

 

Erschienen im Frühjahr 2021. Fleisch 59 – Feinde – ist bestellbar im Abo oder als Einzelheft unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! 

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