Gut, wenn nichts passiert

Fleisch 59, Frühjahr 2021
Text: Lisa Edelbacher
Illustrationen: Marie Vermont                            

 

Es gibt Typen, für die ist die Gesellschaft der Feind, unsere Art zu leben, unsere Werte. Und es gibt Leute, die genau mit solchen Typen arbeiten. Die mit ihnen sprechen, so lange, bis sie zu ihnen durchgedrungen sind, so weit, dass hoffentlich nichts passiert. Damit sie nicht mit der Kalaschnikow durch die Innenstadt laufen, so wie es im November einer tat. Aber wie ist das, jeden Tag mit Menschen zu sprechen, die die eigene Art zu leben kein bisschen verstehen? Über eine Arbeit, die am besten niemand bemerkt. 

 

Gefängnisse sind für gewöhnlich keine Orte, an denen man gerne länger bleibt, sie sind meistens kalt, nicht sonderlich schön dekoriert und die Mitbewohner kann man sich auch nicht aussuchen. Die Justizanstalt Josefstadt ist da keine Ausnahme. Wenn man nicht dableiben muss, also Feierabend hat oder seine Zeit gar abgesessen hat, dann beschleunigt man schon auf dem halben Weg durch den Zentraltrakt, man huscht vorbei an der Cafeteria, an den Besucherräumen, geht schnell durch die Türen, grün, gelb, die Schritt­e werden immer schneller und dann: Puh, endlich draußen. Džemal Šibljaković ist da anders. Mitten im Zentraltrakt bleibt er erst mal stehen, schaut sich um und geht dann zum Waschbecken. Er krempelt sich die Ärmel bis zu den Ellenbogen auf, wäscht seine Hände und sein Gesicht. Dann spült er den Mund aus. Wenn man dann fast glauben würde, Šibljaković holt gleich seine Reisezahnbürste aus der Hosentasche, sagt er: „Die Füße lassen wir aus, zu aufwendig.“ 

Šibljaković, 30 Jahre, unauffällige Kleidung, gut gestutzter Dreitagebart, ist Gefängnisimam und jedes Mal, bevor er die Justizanstalt verlässt, führt er die sogenannte Gebetswaschung durch. Und da seien nicht die Füße wichtig, sondern, er deutet auf seine Stirn, das da oben, da müsse man klar bleiben. Klarheit ist bei seinem Job nämlich nicht ganz unerheblich, weil auch wenn er Profi ist, ganz reinschauen, sagt er, könne man in niemanden. Šibljaković betreut als Gefängnisimam rund 500 Muslime in Haft, 25 davon wollen, dass er regelmäßig kommt. Und wenn er dann da ist, machen sie vor allem eines: reden. Über den Knastalltag, die Fußball-Champions-League und am meisten über den Islam. Den legen einige der Gefangenen nämlich so radikal aus, dass sie deswegen hier einsitzen: IS-Sympathisanten, Prediger, Menschen, die ins Kalifat nach Syrien gingen, oder welche, die das wollten, aber am Weg dorthin ertappt wurden. Es sind Mitläufer, Drahtzieher oder Gefährder – Menschen, wie eben Kujtim F., der erst wegen § 278b, der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation, einsaß und dann zum Attentäter wurd­e. Der am 2. November, ungefähr ein Jahr nach seiner Entlassung, mit einer Beiläufigkeit vier Leben auslöschte, als würde er daheim Counter-Strike spielen. Sein Fall zeigte brutal auf, was passieren kann, wenn ziemlich viele Dinge ziemlich schieflaufen. Denn Kujtim F. war nicht irgendein Verwirrter, er galt als Gefährder, er war dem Verfassungsschutz bekannt und er nahm eben auch an einem Deradikalisierungsprogramm teil. Beide Institutionen, das steht in einem Abschlussbericht, den das Innenministerium drei Monate später veröffentlichte, hätten in seinem Fall ihre Arbeit nicht richtig gemacht. 

Deradikalisieren. In der Theorie klingt das nach einem guten Plan. Die Menschen, die sich irgendwo verlaufen haben, in falsche Ideologien, Vorstellungen, in falsche Träume und Vorbilder – man sollte sie einfach wieder umdrehen. Man sollte sich mit ihnen hinsetzen und sich dann langsam in ihre Köpfe schleichen, so wie es die anderen davor ja auch gemacht haben, die aus den Propagandavideos, aus den radikalen Moscheen oder manchmal sogar aus dem eigenen Freundeskreis. Aber so einfach ist das natürlich nicht. Vor allem deswegen nicht, weil man, wie Šibljaković sagt, natürlich auch nie weiß: Was ist echt und was nur gespielt?

Es ist Anfang April, T-Shirt-Wetter, der erste warme Tag in diesem Jahr, ein paar schmutzweiße Wolken schieben sich über die Stadt, sonst ist der Himmel knallblau. Džemal Šibljaković drückt sich durch das Tor der Justizanstalt Josefstadt wieder zurück ins Tageslicht, kneift die Augen zusammen und schafft mit einer schwarzen Ray-Ban Abhilfe. Hinter ihm: die Knastfassad­e. Davor: die Insignien der bieder-boboesken Josefstadt – Stilaltbau, geleckte Kopfsteinpflaster und ausgeleuchtete Vitrinen. Ein optischer Widerspruch in sich. Šibljaković fummelt den Autoschlüssel seines silbernen Mercedes aus der Hosentasche, tippt eine Nachricht in sein Handy und redet dabei weiter, so, als würde er sonst nichts anderes tun. Es ist eine typische Szene aus seinem Alltag: Er macht drei Dinge gleichzeitig. Das muss er auch, weil Šibljaković der einzige Gefängnisimam Österreichs ist. Das Justizministerium sieht nämlich nur katholische Seelsorge in den Gefängnissen vor und das Geld der islamischen Glaubensgemeinschaft reicht eben nur für diese eine Stelle. 

Šibljaković hat es eilig, gerade kommt er von dem wöchentlichen Jugendtreff, den er im Gefängnis organisiert. Er hat wieder länger gedauert als geplant. Vier Häftlinge waren da, keiner über 18, sie sprachen über Heimat und alle hatten viel zu sagen. Was das mit Deradikalisierung zu tun hat? Mehr, als man glaube, sagt er, weil bei der Rekrutierung das Gefühl der Heimatlosigkeit eine entscheidende Rolle spiele. Prediger, die aufhussen wollen, würden Diskriminierungserfahrungen herausarbeiten und sie gezielt auf die Religion zurückführen. Sie sagen dann: Die Gesellschaft wird dich nie akzeptieren – weil du Moslem bist. 

Der Erfolg von Deradikalisierungsarbeit ist unsichtbar. Gut ist, wenn nichts passiert. Die Prävention, die Fälle, wo die Worte von Menschen wie Šibljaković weit genug vorgedrungen sind, bleiben unbekannt. Aufmerksamkeit gibt es meistens nur, wenn etwas übel ausgeht. So wie in der Nacht vom 2. November. Die Frage, die dabei besonders schwer zu beantworten ist, lautet: Ist es überhaupt möglich, einen Menschen aus dem Extremismus herauszuführen? Kann man ihn einfach umprogrammieren und alles, was quasi mit Gewalt und verstörter Ideologie zu tun hat, von der inneren Festplatte löschen? Insgesamt gibt es an die hundert Menschen in Österreich, die das zumindest versuchen. Sozialarbeiter, Pädagogen, Psychologen und Seelsorger. Sie arbeiten täglich mit Extremisten, aber nicht nur mit Islamisten, auch mit Rechtsradikalen, mit allen, die potenziell gefährlich werden könnten. Sie sind die, die sich auch dann dazwischenstellen, wenn auf der anderen Seite jemand ist, der mit einer Lebensform sympathisiert, die vom Mindset her auch für einen selbst gefährlich werden könnte. Weil auch sie selbst natürlich Teil einer Gesellschaft sind, mit der viele nicht so viel anfangen können.

 

Mordende Männer mit langen Bärten und Kalaschnikows wurden wie Popstars gefeiert und Papadopoulos wollte wissen, wie das passieren konnte.

 

Ein anderer Tag. Spiros Papadopoulos, 38, dunkle, fast schwarze Augen, großer, stabiler Körper, steht in seinem Büro und schlichtet die Unterlagen für den Tag in seine Aktentasche. Er ist einer der 40 Sozialarbeiter aus dem Deradikalisierer-Team des Vereins „Neustart“. Auch er arbeitet mit verurteilten Dschihadisten, mit Menschen, die unter Umständen bis ans Äußerste gegangen wären. Und trotzdem: Wenn man Papadopoulos zuhört, was er so tut, dann hört es sich fast so an, als hätte er vorher Briefe in seine Tasche sortiert, die er gleich austragen will. Kein Ton, kein Hinweis darauf, dass das, was er jeden Arbeitstag tut, ein bisschen heikler ist als viele andere Jobs. Er hat sich zurechtgemacht, trägt Sakko und einen Tick zu viel Eau de Toilette. Gleich hat er einen Termin beim Verfassungsschutz, es geht um ein Pilotprojekt, um ein Aussteigerprogramm für Extremisten, das er leitet. Der Wind drückt sich an diesem Tag durch die Gassen von Margareten, es ist ungemütlich, aber er will trotzdem zu Fuß gehen. Wohin genau, darf er nicht sagen. Das BVT sei da ein bisschen heikel. Aber ein Stück mitkommen, wäre schon okay. 

Papadopoulos sagt, er gehe überhaupt gerne zu Fuß, auch mit seinen Klienten würde er viel spazieren gehen. Im Gehen, sagt er, falle vieles leichter, vor allem das Reden. Vor drei Jahren betreute er seinen ersten Extremisten, einen Dschihadisten, viel mehr möchte er nicht verraten. Es sei aber eine Zeit gewesen, in der immer mehr junge Männer aus Österreich in den Krieg zogen, ins Kalifat. Mordende Männer mit langen Bärten und Kalaschnikows wurden wie Popstars gefeiert und Papadopoulos, damals schon zwei Jahre Bewährungshelfer, wollte wissen, wie das passieren konnte. Er fragte: Wieso, um Himmels willen, wollen sich da welche für ihren Glauben töten? Er sagt, jetzt, vier Jahre und eine Menge Klienten später, habe er das aber immer noch nicht ganz verstanden. Aber ihm sei vieles ein bisschen klarer: Dass die meisten zwar kriminell sind, aber keine Psychopathen, zum Beispiel. Und dass so gut wie alle ihren Platz in der Gesellschaft vergeblich gesucht hatten. 

Der Dschihadismus, so wie wir ihn heute kennen, erreichte Österreich mit ein wenig Verzögerung. Und wenn man so will, war 2014, das Jahr, in dem der Islamische Staat seine größten Erfolge verbuchte, auch der Auftakt dafür. Damals nahm die Miliz gerade die irakische Stadt Mossul ein und bekannte sich zu einer Reihe von Anschlägen, die nicht nur im Nahen Osten, sondern sehr bald auch in zahlreichen europäischen Großstädten stattfanden. Spätestens zu diesem Zeitpunkt manifestierte sich islamistischer Terror endgültig auch in der österreichischen Justiz: 60 der insgesamt 64 Personen, die 2015 wegen der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation in Haft saßen, hatten Verbindungen zum IS. Und plötzlich stand die Frage im Raum: Was tun mit Gefährdern, wenn sie wieder rauskommen? Weil Haftstrafen allein, so viel stand fest, würden wohl kaum zur Deradikalisierung führen. Vielmehr war da die Sorge, Ideologie und Gewalt würden sich so noch stärker in den Köpfen verfestigen. Das Justizministerium schnürte also ein Paket zur Extremismusprävention und Deradikalisierung. Zwei Vereine – sie heißen Neustart und Derad – sollten sich um verurteilte Dschihadisten kümmern, sie mithilfe eines Programms vom Extremismus lösen. So, wie man es bisher nur aus der Suchttherapie kannte. Man versprach sich aber noch etwas von dem Programm: Regelmäßige Treffen mit Sozialarbeitern und Islamwissenschaftlern sollten Kontrolle bringen. Denn ein potenzieller Terrorist, den man im Blick hat, ist besser als einer, der unter dem Radar läuft. Und eigentlich scheint das auch ganz gut zu funktionieren. Die Rückfallquote von Menschen, die in einem Deradikalisierungsprogramm stecken, ist verschwindend klein. Von insgesamt 116 Klienten, die Neustart bis jetzt betreute, wurden nur fünf rückfällig. Das Schlimme ist nur, dass einer reicht, um das Problem ganz massiv in die Schlagzeilen zu bringen. So wie im November 2020. 

Džemal Šibljaković hat sich in seinen Mercedes gesetzt und fährt durch die verwinkelten Gassen der Innenstadt. Er ist, das muss man wissen, nicht nur Imam, sondern auch ausgebildeter Sozialarbeiter. Er hat studiert, arbeitete in der Männerberatung, bis er vor vier Jahren Gefängnisseelsorger wurde. Sein großer Vorteil ist vielleicht: Er kennt den Koran genauso wie Modell­e der Gewaltprävention. Und er ist straßentauglich geblieben, beherrscht die Sprache, die „Wallahs“, „Moruks“, „Babos“. Er sagt,  viele der Jugendlichen, die er betreut, wären gerade aus der Pubertät raus, 17, 18 Jahre vielleicht, und auf ihren Handys schauten sie vor allem Musikvideos von „Gzuz“ oder „Capital Bra“, also Waffengeprotze, Muskeln, Muschis und Maybachs. Dann aber stiegen sie auf das komplette Gegenteil um. Plötzlich liefen gefährliche religiöse Predigten auf ihren Smartphones rauf und runter.

 

Es gibt unzählige Feinde – „Kuffar“, die Ungläubigen. Auch er selbst würde da nicht selten dazu-zählen.

 

Er sagt, seine Klienten hätten irgendwann angefangen, sich Stück für Stück ein Weltbild aufzubauen, das einem ständigen Kriegszustand gleicht, eines, in dem die Fronten mit brutaler Geradlinigkeit gezogen werden. In diesem Zustand würde es dann unzählige Feinde geben. „Kuffar“, sagt Šibljaković, die Ungläubigen. Nicht selten würden sie auch ihn genauso dazuzählen. Der Kreis an Verbündeten sei elitär klein.

Der Ungläubige und damit auch der Feind zu sein, kennt Spiros Papadopoulos natürlich auch. Wenn er über seine Arbeit spricht, spricht er immer auch von einer Gratwanderung, von einem ständigen Abwiegen zwischen Nähe und Distanz, von Vertrauen aufbauen und sagen, dass das, was da vorgefallen ist, nicht richtig war. Papadopoulos sagt immer gleich beim ersten Treffen, dass er mit Behörden kooperiert, dem Justizministerium zum Beispiel: „Wenn ich Ehrlichkeit erwarte, muss ich auch offen sein, wie wir arbeiten.“ Seine Klienten wissen auch, dass jedes Treffen, jeder Fortschritt, jeder Rückschritt protokolliert wird. Und vielleicht denken sie auch daran, dass sich am Ende daraus natürlich ein Bild ergibt, das auch in die Risikobewertungen der Sicherheitsbehörden miteinbezogen wird. Bloß: Eine hundertprozentige Sicherheit wird es nie geben. Man könne sich immer irren, Anzeichen falsch deuten oder schlichtweg getäuscht werden. Weil natürlich, sagt Papadopoulos, gebe es Menschen, die sogar darauf trainiert wären, sich zu verstellen. 

Wie unterschiedlich die Herangehensweisen sind, merkt man bei den beiden sehr. Während Papadopoulos sich dem Ganzen sehr zurückhaltend nähert, das, was er tut, fast technisch beschreibt, spricht Šibljaković auch von bitteren Rückschlägen. Von Jugendlichen, die er über Monate besuchte, mit denen er lachte, Witze machte, auf die vergeigte Partie der Dortmunder schimpfte. In letzter Zeit hatte er ein paar Fälle, wo er dachte: Hey, da bin ich durchgekommen, um dann beim nächsten Treffen gegen eine imaginäre Wand zu laufen. Er erzählt, es gab junge Männer, die gesehen hatten, wie er einer Frau zur Begrüßung die Hand reichte, und ihn dann fragten, was er denn für ein Moslem sei. In ihren Augen nämlich gar keiner. 

Er würde nicht daran verzweifeln, weil solange sie noch irgendwas sagen, sei noch Hoffnung. Aber natürlich wäre es mühsam, immer von vorne beginnen zu müssen. Ob er selbst schon mal Feind war? Šibljaković sagt nur so viel: „Was ich tue, gefällt sicherlich nicht jedem.“ Was er damit andeutet, versteht man vielleicht besser, wenn man sich Interviews mit seinem Vorgänger Ramazan Demir durchliest, der den Job aufgab, weil er die Todesdrohungen von Predigern und Insassen nicht mehr aushielt.

Wenn man Experten, Sozialarbeiter oder Justizbeamte fragt, wo die Defizite in der Deradikalisierungsarbeit liegen, bekommt man immer die gleiche Antwort: am Geld. Das Personal sei unterbezahlt und überlastet und das, obwohl diese Arbeit laut Extremismusexperten in Zukunft noch dringender gebraucht wird. Denn: Es sind die Härtefälle, die jetzt aus Syrien zurückkommen, die, die bis zum Ende gekämpft haben. Und außerdem wäre da eine Bedrohung, die im langen Schatten des Anschlags vom 2. November noch komplett untergehe: der Rechtsextremismus.  Džemal Šibljaković bleibt bei einer roten Ampel stehen, lässt das Fenster einen Spalt hinunter. Auch er glaubt, dass die Rechten uns in Zukunft noch gut beschäftigen werden. Aber auch die Deradikalisierungsarbeit, sagt er, unterliege einer Konjunktur. Was er damit meint? Reagiert wird erst, wenn etwas passiert ist. 

 

Erschienen im Frühjahr 2021. Fleisch 59 – Feinde – bestellbar im Abo und unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! 

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