Feinde fürs Leben
Die Mittwoche sind gut. Mittwochs treffen sich nämlich die Mitglieder des grünen Regierungsteams und reden. Sie treffen sich dabei in den Räumlichkeiten des Grünen Parlamentsklubs in der Wiener Löwelstraße, und sie sind dabei unter sich: Kein Sebastian Kurz, keine ÖVP-Minister, keine Journalisten, einfach niemand: „Da gibt es ein Gefühl des Miteinander, das erinnert einen wieder daran, wofür man das alles macht.“ Wenn man Rudolf Anschober, dem Gesundheitsminister, zuhört, wie er über diese Mittwochsrunde spricht, dann spürt man, wie wichtig ihm diese Auszeit aus dem Koalitionshickhack ist. Dabei ist es, als er das erzählt, Anfang November, Anschober ist in den Meinungsumfragen noch der mit Abstand beliebteste Politiker des Landes, die Sticheleien der ÖVP laufen zwar bereits, sind aber noch erträglich. Also alles nicht so schlimm, wie es noch werden wird.
Denn genau fünf Monate oder 20 Mittwoche später tritt Anschober zurück. Aus dem ausgeglichenen Typen, dem beliebtesten Politiker des Landes ist in dieser Zeit ein leicht reizbarer Eigenbrötler geworden. Einer, der in Sitzungen mitunter schärfer wird. Der sich darüber beschwert, „dass er alles 100 Mal sagen muss und dann trotzdem nix passiert“. Einer, bei dem die Mitarbeiter kündigen, weil sie die Anstrengung nicht mehr stemmen können, sie die Bedingungen nicht mehr aushalten und aushalten wollen.
Und vor allem einer, an dem sich der Koalitionspartner abarbeitet, wie es in der österreichischen Geschichte wohl einzigartig ist. Denn erstmals sind es nicht nur kleine Nicklichkeiten und gezielte Indiskretionen, die Mitarbeiter aus ÖVP-Kabinetten über Anschober und sein Team an befreundete Journalisten durchstecken: Bei Anschober kritisieren ÖVP-Minister und vor allem der Kanzler direkt und in aller Öffentlichkeit. Immer mal wieder richtet ihm Sebastian Kurz aus, was im Gesundheitsministerium zu passieren hätte, immer wieder äußert sich Kurz zu Themen, die eigentlich das Gesundheitsministerium betreffen, ohne zuvor mit Anschober Rücksprache zu halten. In der größten Gesundheitskrise, die Österreich in der Zweiten Republik auszustehen hat, arbeitet die Regierung nicht gemeinsam oder stärkt sich zumindest nach außen den Rücken, sondern benützt der Kanzler den Gesundheitsminister als Sandsack für die öffentliche Meinung. Und das, obwohl er in dieser Zeit im Krankenhaus und – wie er bei seiner Abschiedspressekonferenz sehr freimütig erklärt – „überarbeitet und ausgepowert“ gewesen sei. Die Ärzte hätten ihm geraten, aus Rücksicht auf seine Gesundheit sein Amt niederzulegen. Dass sein Rücktritt an einem Dienstag stattfand, war übrigens Zufall.
Politik ist mittlerweile nichts anderes als ein Kärntner Eishockey-Derby in der guten alten Zeit: Unten schlagen sich die Akteure die Zähne aus und oben johlen die Zuschauer bei jedem Schlag.
Anschober wird nun jedenfalls nicht als beliebtester Politiker der Pandemie in die Geschichte eingehen, sondern als erstes grünes Opfer jenes „neuen Stils“, der Österreichs Politik seit einigen Jahren beherrscht. Unabhängig davon, ob Anschober jetzt ein guter oder schlechter Gesundheitsminister war: Dass der Koalitionspartner auch offiziell einen Minister des Regierungspartners anschießt, und zwar so lange, bis dieser aufgibt, das ist Neuland. Mag sein, dass Koalitionen in diesem Land auch früher nur reine Zweckbündnisse waren, aber zumindest nach außen hin haben sie den Schein gewahrt, sogar die Koalition von Alfred Gusenbauer und Wilhelm Molterer.
Das hat sich gründlich geändert.
Heute heißt es „Jeder gegen jeden“ – und das immer und zu jeder Zeit. Die Lautstärke ist dramatisch nach oben gegangen, und es ist längst nicht mehr nur die Opposition, die jede Gelegenheit nützt, einem Regierungsmitglied den Rücktritt zu empfehlen oder noch besser eine Kronzeugenregelung mit der Korruptionsstaatsanwaltschaft. Heute teilt auch die Regierung aus und das kräftig. Politik in Österreich ist spätestens seit 2017 nichts anderes mehr als ein Kärntner Eishockey-Derby aus der guten alten Zeit, in der die Schiris eine gesunde Härte zuließen, und zwar auf dem Eis genauso wie auf der Tribüne. Unten schlagen sich die Akteure die Zähne aus, oben johlen die Zuschauer bei jedem Schlag und fordern: Mehr, mehr, mehr.
Und ja, die Akteure wollen liefern, nur zu gerne und am besten 24/7. Vor allem die ÖVP. Sebastian Kurz ist ein Kanzler neuen Stils, und wie wir gelernt haben, braucht man für seine Art zu regieren vor allem eines – einen Feind. Am Anfang war es das klassische politische System Österreichs, also die Große Koalition aus SPÖ und ÖVP, die so langweilig war, dass sie nicht mal mehr die „Krone“ ausgehalten hat. Dann waren es die Migranten, dann ganz nebulos Europa, aber mittlerweile gilt: Je konkreter der Feind ist, desto besser ist es, und am besten ist es, wenn der Feind sogar einen Namen hat. Es müssen nicht mehr zwingend Politiker sein, so wie 2017, als Feinde eignen sich mittlerweile auch Journalisten, Kirchenvertreter, Mitglieder der sogenannten Zivilgesellschaft. Selbst vor eigenen Parteifreunden wird nicht mehr haltgemacht. Wann hat es das jemals gegeben, dass ein Kanzler einen Sektionschef in mehreren Pressekonferenzen und Interviews namentlich erwähnt und ihm die Schuld an einem Fehler der Regierung gibt? Noch dazu einen, der jahrzehntelang für die eigene Partei Mitgliedsbeiträge bezahlt und an zentraler Stelle für die ÖVP gearbeitet hat? In den sozialen Medien werden einzelne Journalisten von Parteigängern attackiert, je prominenter und followerstärker die Journalisten sind, desto besser. Bei Florian Klenk, dem Falter-Chefredakteur, wird das sogar via Presseaussendung gemacht oder über Geschichten in den Parteimedien und solchen, die es noch werden wollen. Der Journalist wird so zum politischen Akteur, der gar nicht Fakten recherchiert, sondern eine Kampagne reitet, auch wenn das natürlich kompletter Blödsinn ist. Zumindest die eigenen Fans glauben das. Irgendwann.
„Was ist die Geschichte des Tages?“, das war viele Jahre lang die Frage, die sich die Kommunikationsteams der jeweils Regierenden gestellt haben, wenn sie überlegt haben, womit sie am nächsten Tag in der Zeitung stehen wollten. Bei Sebastian Kurz und seinem Team hat man meistens das Gefühl, sie besprechen in ihrer Morgenlage nicht das Thema, sondern den „Feind des Tages“ und überlegen, wer ihn attackieren darf: Wenn es ganz low-key sein muss, also zum Beispiel gegen die Abgeordneten im Ibiza-Untersuchungsausschuss geht, dann kommen August Wöginger oder Andreas Hanger, der neue Lieblingsniederösterreicher der Volkspartei, zum Einsatz, wenn der Gegner ein bisschen mehr Aufmerksamkeit verdient, reitet einer der Minister aus, und wenn es ganz besonders wichtig ist, dann macht es Kurz auch selbst.
Ungewöhnlich für einen Kanzler? Mag sein, aber ziemlich effektiv, wie man am Beispiel von Clemens Martin Auer, dem abgelösten Sektionschef im Gesundheitsministerium, sieht. Oder auch am Beispiel der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft, die von der ÖVP seit einem Jahr wie der Staatsfeind Nummer eins behandelt wird (weil sie zugegebenermaßen auch gegen einige ÖVP-Politiker ermittelt, gefühlt mehr, als die ÖVP noch vor einigen Jahren Abgeordnete hatte).
Warum macht er das? Warum heizt eine Kanzlerpartei die Stimmung derart auf, wie es früher nur eine Oppositionspartei vom Zuschnitt der FPÖ Jörg Haiders gemacht hat?
Würden diese Matches nur auf Twitter laufen, dann könnte man ja vielleicht sagen: Okay, Twitter, WTF, was interessiert eine Plattform, auf der sich die immer gleichen 10.000 Menschen täglich gegenseitig ausrichten, dass sie sich für ein Arschloch halten – oder eben gerade nicht. Aber nein, fast die gesamte Öffentlichkeit geht im Moment miteinander um wie eine Runde kleiner Kläffer, die auf der Hundewiese ihr Revier markieren.
Vielleicht liegt es auch ein bisschen am Zeitgeist. Wir leben in einer Welt des großen Krawalls. Unsere Gesellschaft läuft auf einer Betriebstemperatur wie ein Kelomat und viele der Akteure stehen wohl unter einem ähnlichen Druck. Die sozialen Medien sind deswegen voll mit Schlammschlachten, irgendwo kocht fast immer ein neuer Bitch-Fight hoch und manchmal hat man das Gefühl: Wenn die Menschen schon sonst nirgendwo hingehen können, dann wollen sie sich wenigstens einen Gerichtstermin checken. Manche dieser Aggro-Duelle sind erwartbar, wenn zum Beispiel im „Kurier“ ein Leitartikel erscheint und dann jemand vom „Kurier“ mit jemand von „ZackZack“ in den Ring steigt, um Weltanschauungs-, Geschmacks- und Moralfragen zu diskutieren, fast zwingend mit einem untergriffigen rechten Haken und immer hart an der Gürtellinie. Andere Fights sind überraschender, wenn etwa die Postergirls des gesunden Volksempfindens von „Krone TV“ und „exxpress“ aufeinander losgehen. Als Zuschauer fühlt man sich dabei wie beim Mud-Wrestling: Man weiß, dass man eigentlich weiterzappen sollte, bleibt aber natürlich hängen. Weil ein bisschen lustig ist es schon.
Würden diese Matches nur auf Twitter laufen, dann könnte man ja vielleicht sagen: Okay, Twitter, WTF, was interessiert eine Plattform, auf der sich die immer gleichen 10.000 Menschen täglich gegenseitig ausrichten, dass sie sich für ein Arschloch halten – oder eben gerade nicht. Aber nein, fast die gesamte Öffentlichkeit geht im Moment miteinander um wie eine Runde kleiner Kläffer, die auf der Hundewiese ihr Revier markieren.
Vielleicht geht es dabei um die Aufmerksamkeit, denn von einem guten Fight können unter Umständen beide profitieren, weil der Ausgang des Kampfes oft gar nicht so wichtig ist. Der „Rumble in the Jungle“ hat seinen Platz in der Boxgeschichte und er ist eben nicht nur mit Muhammad Ali, sondern auch mit George Foreman verbunden, selbst wenn längst nicht alle, die davon schon mal gehört haben, wissen, wer eigentlich gewonnen hat. Ungefähr so ist es auch, wenn sich August „Gust“ Wöginger mit Florian „Flotschi“ Klenk duelliert, oder Richard „Dampfwalze“ Grasl mit Thomas „Pilzsoldat“ Walach. Der Kampf ist das Ziel, er mobilisiert die eigenen Fans und trägt den Ruhm der Beteiligten weit über das tatsächliche Ereignis hinaus. Das ist übrigens nicht nur auf Twitter und im Journalismus so, sondern auch im Aktivismus, wenn „woke“ und „liberal“ aufeinanderprallen. Oder Windkraft auf Auto. Oder wenn die Anti-Corona-Demonstranten aufmarschieren und ihre Feinde nicht mehr nur in einer virtuellen Welt oder im ORF sehen, sondern gleich gegenüber, hinter dem dichten Ring an Polizisten oder Absperrgittern. Da wird es dann manchmal auch körperlich ernst und ein bisschen beängstigend.
Aber diese moderne Art der Feindschaft ist erstaunlich oft nur für die Galerie, manchmal schmerzhaft, aber nie nachhaltig. Eigentlich hat die Geschichte ja gezeigt, dass gepflegte Feindschaften auch etwas Gutes haben können, dass zwei Menschen, die einander als Feinde gegenüberstehen, auch beide besser werden können. Ben Johnson und Carl Lewis haben sich so gejagt, bis sie beide die ersten Menschen waren, die die 100 Meter unter 10 Sekunden laufen konnten, Hermann Maier und Stefan Eberharter haben den alpinen Skirennlauf revolutioniert. Rafael Nadal und Novak Djokovic gifteten sich so lange an, bis sie irgendwann mal fast so viele Grand Slams gewonnen haben wie Roger Federer, und Alain Prost und Ayrton Senna, bis sie zu den besten Formel-1-Piloten der Geschichte wurden. Aber auch in anderen Bereichen: Wo wäre Thomas Bernhard ohne seinen Hass auf Heimito von Doderer (und eigentlich alles andere) geblieben? Und wo Oasis ohne die dauerkrawalligen Gebrüder Gallagher?
Aber in der aktuellen Politik befruchtet niemand irgendwas, die Feindschaften sind reine Show, so wie die Politik selbst auch.
Vielleicht geht es einfach um eine gewisse Absicherung, denn heute will niemand einen Fehler machen. Ein Fehler kann immer nach hinten losgehen. Wer aber einen Feind hat, der hat, wenn mal etwas schiefgeht, sofort einen Schuldigen parat, und auch das ist offenbar „neu regieren“. Wie lange hat es in der Nacht des 2. November, als ein Attentäter sich durch die Wiener Innenstadt schoss, gedauert, bis Innenminister Karl Nehammer seine Regierungskollegin Alma Zadić und das Justizministerium öffentlich dafür kritisierte, dass der Attentäter vorzeitig aus der Haft entlassen worden war und die Experten des Deradikalisierungsprogramms getäuscht hatte – drei Stunden? Vier? Dass der Fehler eher bei den Beamten seines BVTs lag, die den Attentäter trotz mehrerer Hinweise nicht gut observierten, verschwieg Nehammer natürlich.
Es geht um die Lautstärke, um den Lärm, um die Pose.
Was man auf der Hundewiese übrigens lernen kann: Natürlich sind immer die Kleinsten die lautesten Kläffer. Aber die ganze Aufregung bringt ihnen nichts, wenn sich niemand findet, der sie ernst nimmt.
Erschienen im Frühjahr 2021. Fleisch 59 – Feinde – bestellbar im Abo und unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!