Donnerstag, 11. April, kurz nach Mittag, Wiener Rathausplatz, Max Lercher betritt die Szene und er ist sofort all-in. „He, der Max.“ Erstes Zelt rechts, der Stand der Region Sausal in der Südsteiermark, zehn Minuten, erstes Glas. „Servas, Max, was machst denn du da?“ Erster Stand in der Mitte, der vom Jägerwirt, zweites Glas. Es geht weiter, immer weiter: „Servus, Max“, „Hallo, Max“, „Max, ewig nicht mehr gesehen!“
Es ist der sogenannte Steirerfrühling am Rathausplatz, einer dieser Events, von denen man nie genau weiß, warum es sie gibt und was man dort tun soll – außer saufen (aber wahrscheinlich ist das auch schon die Antwort auf die Frage), und es ist so etwas wie ein Heimspiel für Max Lercher. „Jetzt ist nur der harte Kern da“, hatte er davor gesagt, und nach gut 30 Minuten ist klar, wer an einem Donnerstagmittag Zeit hat, „der harte Kern“ einer Rathausplatz-Veranstaltung zu sein: Bürgermeister, Landtagsabgeordnete und alle anderen Politiker, die die Steiermark an so einem Tag entbehren kann. Irgendwo soll sich angeblich auch der Wiener Bürgermeister herumtreiben, der steirische Landeshauptmann und ein oder zwei Landesrätinnen.
Was macht Lercher da? Hat er Entzugserscheinungen?
Streng genommen ist er nämlich der einzige Nicht-mehr-Politiker auf dem Rathausplatz, auch wenn er offiziell SPÖ-Chef der Region Obersteiermark West ist, also der Bezirke Judenburg, Murau und Kapfenberg. Aber dass das nicht der höchste Posten ist, den er jemals haben wollte, ist klar.
Ein paar harte Tage im September
Ein paar Wochen vor dem Rathausplatz-Termin. Lercher sitzt im Glacis-Beisl im Wiener Museumsquartier, er trinkt einen Apfelsaft, und er sieht so ganz anders aus als früher, jedenfalls keinen Tag jünger als die 32 1/2 Jahre, die er ist. Es ist etwas mehr als ein halbes Jahr her, seit Lercher als SPÖ-Bundesgeschäftsführer zurückgetreten wurde, weil die neue Parteichefin Pamela Rendi-Wagner Lerchers Job für ihren Vertrauten Thomas Drozda benötigte.
Lercher will nicht wirklich darüber reden, aber dass die vergangenen Monate für ihn nicht die besten seines bisherigen Lebens waren, das ist offensichtlich. „Sagen wir so, es waren ein paar harte Tage im September“, sagt er. Kurz vor dem Rücktritt von Christian Kern hatte er sein steirisches Landtagsmandat aufgegeben, er hatte in Wien eine Wohnung genommen und sich von seiner Frau getrennt, das alles innerhalb weniger Tage.
Es ist also ziemlich viel aus den Fugen geraten in der Welt des Max Lercher, und wenn man so will, dann war er der letzte und vielleicht sogar der schlimmste Kollateralschaden in dieser seltsamen Beziehung zwischen der SPÖ und ihrem ehemaligen Parteichef, in der die beiden Partner erst so begeistert voneinander waren und sich am Ende doch nur fragten, auf was für einen Zombie sie sich da eigentlich eingelassen haben.
Denn mit dem Abgang von Kern stand Lercher ja nicht nur ohne Erwerbseinkommen da: Eine ganze ebenso vielversprechende wie konsequente Parteikarriere klebte da plötzlich an der Wand. Lercher hat zeit seines Erwachsenenlebens nichts anderes gemacht, als für und in der SPÖ zu arbeiten. Er war SJ-Vorsitzender, steirischer Landtagsabgeordneter, Zuständiger für die Parteireform, Landesgeschäftsführer.
Und dann war im September alles vorbei, mit gerade einmal 32, also wirklich weit vor der Zeit und jedenfalls weit früher, als es das gesetzliche Pensionsantrittsalter zulässt.
Logische Besetzung in der Löwelstraße
Als Lercher damals im Dezember 2017 in der Löwelstraße seinen Dienst antrat, da war er für die Parteifunktionäre die logische Besetzung. Schon im September, als im Wahlkampf Georg Niedermühlbichler aufgrund der Silberstein-Turbulenzen zurücktreten musste, wäre Lercher von vielen gerne in die Löwelstraße gesetzt worden, Kern selbst und vor allem sein damaliger Kanzleramtsminister Thomas Drozda sträubten sich aber.
Lercher hatte sich in ihren Augen in der Steiermark zwar seine Meriten erarbeitet – aber eben nur in der Steiermark. Für die große Bundespolitik schien er ihnen zu unerfahren, zu leichtgewichtig und am Ende auch allein schon vom Idiom her zu steirisch, als dass man ihn nach Wien holen könnte. (Fairerweise war zumindest Letzteres kein ganz unberechtigter Einwand, wie sich ein paar Monate später bei Lerchers ersten Interviews im echten, österreichweit übertragenen Fernsehen herausstellen sollte, Anm.) Zu dieser SPÖ, die Kern und Drozda damals wollten, passte der für Wiener Innenstadt-Ohren so schwer verständliche Obersteirer irgendwie nicht.
Und das war gar nicht nur sprachlich gemeint. Denn Lercher hatte eine andere SPÖ, eine deutlich weniger urbane im Sinn. Und die Politik, die er machen wollte, die wollte er auch für ein anderes Publikum machen. Und das will er immer noch.
Wenn Max Lercher heute im Glacis-Beisl sitzt und über die Probleme der SPÖ redet, dann ist viel von strategischen Fehlern die Rede. Dass man die falschen Zielgruppen im Auge hatte und dass man sich zu wenig Profil gegeben hat. Und es geht ihm dabei gar nicht so sehr darum, dass sich die SPÖ zu sehr als Wohlfühlpartei inszeniert, die sich mit den Grünen um die Wähler des linksliberalen Spektrums balgt. „Wir haben keine Kanten mehr“, sagt er dann. Oder: „Wir besetzen den Leistungsbegriff mittlerweile genauso wie die Schwarzen.“
Die SPÖ – wieder eine Hackler-Partei?
Ein neues „Wohlstandsversprechen“ möchte Lercher abgeben und einen Staat schaffen, der nicht den Kartellen dient, sondern eine Machtbalance schafft. Er kann alles noch sehr viel markiger sagen, aber er meint immer das Gleiche. Lercher möchte die SPÖ zurück an die Stammtische führen. Sein verbaler Gegner sind dabei Unternehmer und große Konzerne, sein strategischer ist die FPÖ. Und damit das gelingt, sollte sich die SPÖ eine andere Struktur verpassen. Irgendwann hat er deswegen mal eine „Arbeiterquote“ für die SPÖ gefordert. Lercher hält das nach wie vor für eine gute Idee.
Wie das gehen könnte, das sieht man, wenn man Lercher in die Obersteiermark begleitet. Als Regionalvorsitzender ist er da nach wie vor permanent im Einsatz, zuletzt hat er in Judenburg einen politischen Aschermittwoch abgehalten, und zwar genauso, wie man es von der bayrischen CSU oder von der FPÖ kennt, Bierzelt, Krügerl und Volksmusik inklusive. Nur dass auf der Bühne eben nicht Heinz-Christian Strache steht und Herbert Kickl die Gags schreibt, sondern Max Lercher original Max Lercher vorträgt. In der Lautstärke macht das keinen Unterschied, die Pointen zielen genauso wie früher bei Kickl aka Strache auf die Regierung, die „wie die Hütchenspieler eine riesige Show macht und dann alle aussackelt“, oder auf den Regierungschef, dessen Namen man so buchstabieren sollte: „K wie Konzerne, U wie Unternehmen, R wie Reiche und Z wie Zeitungsbesitzer.“
Okay, das sind jetzt keine Gags, wegen denen man Lercher sofort als Staff-Writer zu „Willkommen Österreich“ holen müsste, aber es ist ein Anfang. Und es klingt auf jeden Fall nicht so wie Pamela Rendi-Wagner.
Wenn Lercher öffentlich redet, dann ist immer sehr viel Pathos dabei, es wirkt immer theatralisch, bei jedem Satz gibt er zur Sicherheit noch eine Portion Extraschmalz mit, damit auch wirklich jeder, der ihn hört, jeden Gag und jede Attacke auf die „Konzernregierung“ mitbekommt. Egal, ob im Bierzelt in Judenburg, am Stammtisch in Murau oder auch am Rathausplatz: Lercher ist kein Mann für die Zwischentöne – und ein passendes Marx- oder Lenin-Zitat hat er auch fast immer dabei.
Wann hat man zuletzt einen SPÖ-Politiker bei einer Rede vor den Genossen Marx zitieren gehört?
Aber genau das kommt an, sagt Lercher jedenfalls. Immer wieder hat er in diesen Tagen Einladungen, um vor Genossen zu sprechen, und zwar nicht nur in der Steiermark. „Selbst in linken, urbanen Sektionen“, sagt Lercher, will man ihn in diesen Tagen hören. „Da rede ich dann mit weniger Dialekt, aber die Botschaft bleibt die gleiche.“
Ein großangelegter Feldversuch
Wenn man Lercher zuschaut, dann bekommt man irgendwann das Gefühl, dass da gerade ein großangelegter Feldversuch über die Bühne geht. Wie könnte eine SPÖ aussehen, wenn es die 90er-, 00er- und 10er-Jahre nicht gegeben hätte? Lercher ist Jahrgang 1986, er hat das alles nur im Fernsehen nachgesehen, aber es fühlt sich so an, als hätte ihn irgendwer von dort rübergeholt. Und es gibt nicht wenige, die das gut finden. Oder zumindest mal sehen wollen, ob es funktionieren könnte.
Ist es Nostalgie? Oder einfach eine Rückbesinnung auf alte Werte?
Max Lercher ist noch ein paar Wochen jünger als Sebastian Kurz und so wie der schafft es auch Lercher, Emotionen zu wecken, vor allem auch bei Älteren. Das wird vor allem in den sozialen Medien deutlich. Knapp 14.000 Fans hat „Max Lercher, Politiker“ auf Facebook, das ist deutlich mehr als amtierende SPÖ-Politiker wie Hans Peter Doskozil oder Thomas Drozda und nur unwesentlich weniger als die amtierenden SPÖ-Landeschefs Peter Kaiser oder Michael Ludwig.
Auf Facebook holt Lercher gerne mal zu Brandreden aus, und wenn er das tut, dann bekommt er dafür selten weniger als 1.000 Likes und 300 Kommentare. Für eine gewisse Klientel ist Lercher ein Hero, sie feuern ihn bei jedem seiner Postings an.
Das Spannende an Lercher ist aber, dass man ihn nicht auf den Nostalgiker reduzieren kann. Denn wenn man bei ihm den Dialekt und die Kampfrhetorik und die Glorifizierung der Verstaatlichten abzieht, dann bleibt ein Typ übrig, der von Politik und ihrem Innenleben sehr viel mehr versteht als die SPÖ-Parteichefin und deren Bundesgeschäftsführer zusammen.
Gute Nachrede in der SPÖ
Lercher weiß, wie wichtig Netzwerke und Seilschaften sind, und man muss mit ihm gar nicht einmal auf den Rathausplatz gehen, um zu sehen: Er hat diese Netzwerke. Lercher kennt die und kann mit den SPÖ-Funktionären, auch mit denen aus der zweiten und der dritten Reihe. Die Bandbreite reicht dabei vom Gewerkschaftsflügel bis zu den Parteilinken, er kann mit dem neuen Wiener Bürgermeister Michael Ludwig genauso gut wie mit Menschen wie Barbara Blaha, die gerade versucht, eine Art linken Think-Tank aufzubauen. Lercher pflegt diese Kontakte seit Jahren, und es gibt nicht wenige Menschen, die meinen, er hätte von seiner Zeit in der Bundesgeschäftsstelle weniger für die Vermarktung von Christian Kern verbraucht als für die Vermarktung von Max Lercher.
Das hat ihm beim Übergang zu Pamela Rendi-Wagner zwar nicht den Job gerettet, aber es gibt viele in der SPÖ, die wegen der Demontage von Lercher ein schlechtes Gewissen haben. Weil wer weiß, wofür man ihn noch brauchen kann? Wenn er heute auf dem Rathausplatz in den Wiener Bürgermeister
läuft, dann bleibt dieser jedenfalls stehen und redet mit ihm so lange, bis es davon garantiert ein Video gibt. Und auf die Fotos mit den lokalen Bierbrauern holt Ludwig Lercher genauso, wie es später Michael Häupl machen wird.
In der SPÖ insgesamt hat Lercher jedenfalls eine ausgezeichnete Nachrede. In seinen wenigen Monaten als Bundesgeschäftsführer habe er die Parteizentrale halbwegs aufgeräumt, heißt es. Unter Lercher hätten viele Mitarbeiter, die sich davor nur als lästiges Anhängsel einer Kanzlerpartei oder des Parlamentsklubs gesehen hatten, plötzlich wieder eine Idee bekommen, wie die Partei aussehen könnte. Und das vielleicht größte Kompliment, das man ihm machen konnte, war, dass nach seiner Ablöse einige Mitarbeiter gekündigt haben – und jetzt mit ihm in einem eigenen Kampagnenbüro arbeiten.
Denn mittlerweile sitzt Lercher als Geschäftsführer der SPÖ-nahen Leykam Medien AG in einem neuen Wiener Büro. „Campaigning“ werden sie dort machen, sagt Lercher – und nachdem er sich dafür die gesamte Social-Media-Abteilung der SPÖ-Parteizentrale in der Löwelstraße geholt hat, kann man sich vorstellen, dass er nicht nur über die Hintergrundfarbe von Kandidaten-Plakaten nachdenken möchte. Klar: Wenn es heute um Wahlkampf geht, dann geht es vor allem um den Aufbau eines Social-Media Netzwerks, es geht darum, unterschiedliche Zielgruppen mit unterschiedlichen Botschaften anzusprechen, es geht aber auch darum, im Vorfeld
potenzielle Themen für die jeweiligen Kandidaten herauszuarbeiten.
Der ehemalige ÖVP-Niederösterreich-Werber Philipp Maderthaner hat vor einigen Jahren ein derartiges Büro gegründet und es in den Dienst von Sebastian Kurz gestellt. Nicht wenige glauben deswegen, dass Kurz ohne Maderthaner nie Kanzler geworden wäre. Nach dem Verkauf des Druckereigeschäftes hat Leykam jetzt ein paar Euro in der Kriegskasse, und wenn man Lercher und seinem Team so zuhört, dann hat man das Gefühl, dass da jetzt so etwas wie ein linkes Pendant zum Büro Maderthaner entstehen soll.
Die Frage ist nur: Für wen? Für welchen Kandidaten?
Am Ende weiß das wohl nur Max Lercher selbst. Bei seiner Tour über den Rathausplatz hatte Lercher jedenfalls schon mal einen Fotografen dabei. Bilder von Lercher mit allen wichtigen Menschen gibt es deswegen zuhauf. Man kann ja nie wissen.
Erschienen im Frühjahr 2019. Fleisch 51, bestellbar im Abo oder als Einzelheft unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!