Ja oder Ja?

Fleisch 70, Frühjahr 2024 
Text und Fotos: Christoph Wagner                           

Wie ich auf einem Kreuzfahrtschiff lernte, wieder optimistisch in die Zukunft zu sehen.

Es ist Ende Jänner dieses Jahres, und die Nachrichtenlage ist ziemlich beschissen: Russland schickt Drohnen und Raketen in den Süden und Osten der Ukraine, die Inflation in Österreich liegt immer noch bei 4,5 Prozent, und in Teilen Spaniens hat es fast 30 Grad. Jetzt, mitten im Winter. Aber auf Deck 15 der „MSC Fantasia“ spielt das alles keine große Rolle. Im Gegenteil: Mit einem Erdbeer-Daiquiri in der Hand lässt es sich am Sonnendeck im Hafen von Palma de Mallorca ganz gut aushalten. Es könnte sogar noch ein bisschen wärmer sein, der Wind ist nämlich schon recht frisch.

Dass ich auf Mallorca gelandet bin, ist Zufall, dass ich auf einem Kreuzfahrtschiff liege, ist aber volle Absicht. Ich wollte mich unter Menschen begeben, die auch in Zeiten wie diesen Frohmut und Gelassenheit nicht verloren haben. Ich wollte Menschen treffen, die keine finanziellen Sorgen haben oder zumindest keine gravierenden, die sich vor Kriegen und der immer stärker werdenden Polarisierung nicht fürchten und sich am Ende auch nicht wegen der paar Grad mehr Erderwärmung anschwitzen. Nicht, weil sie dumm sind, sondern weil es auf ihr Leben keine Auswirkung mehr haben wird. Und wer passt da besser als junge Pensionisten? Also Menschen, die noch nicht allzu viele Wehwehchen haben und deswegen das Leben genießen, die sich, während sie gearbeitet haben, etwas auf die Seite geschafft haben und das jetzt in vollen Zügen ausgeben können, und die gleichzeitig alt genug sind, dass es ihnen schnurzegal sein kann, wenn Mitteleuropa in 20 Jahren zu heiß, zu voll und vielleicht sogar unregierbar sein wird. Diese Menschen, dachte ich mir, trifft man vor allem auf Kreuzfahrtschiffen.

Also Mallorca. „MSC Fantasia“, eine Woche ohne Probleme und Zukunftsängste. Es sollte heilsam werden.

TAG 1 – EIN ERSTES KENNENLERNEN

In meinen ersten Stunden an Bord passierte in dieser Reihenfolge Folgendes: Mir wurde mein Koffer abgenommen und bis vor die Kabinentür getragen. Ich habe mich verirrt, als ich ins Restaurant am Steuerbord wollte, ein hier arbeitender freundlicher Philippino nahm mich dann aber an der Hand und führte mich zum Pizza-Buffet, real, nicht sprichwörtlich. Ich habe dort zugeschlagen – und beim „Mediterranean Corner“ der Einfachheit halber auch gleich. Ich habe vier verschiedene Hauptspeisen (in solider Qualität) und drei verschiedene Nachspeisen (in guter Qualität) gegessen. Ich wurde von der sehr internationalen Belegschaft durchgehend Sir genannt. Das war toll, auch weil mir bewusst war, dass mein Pullover schlurfig und meine Sportschuhe nicht sehr sauber waren. Ich wurde angelächelt, jede Minute mindestens ein Mal, außerdem wurde ich aufgefordert, Tischtennis zu spielen, in eine Kartenrunde eingeladen und bekam ein Vanilleeis in die Hand gedrückt. Man kümmerte sich sehr um mich, sehr viel mehr, als man es als Erwachsener gewohnt ist (zumindest wenn man nicht CEO oder Multimillionär ist), und vielleicht ist das der Grund, warum von den Milliarden Gedanken, die ich in der Früh im nasskalten Wien noch hatte, genau einer übrig geblieben war: Was ist „Fantasia“ für ein wunderbarer Name für so ein Schiff, für so eine Reise, für so eine Flucht.

Auch wenn man hier wirklich nicht allein mit seinen Gedanken ist.

Die „Fantasia“ ist ein mittelgroßes Kreuzfahrtschiff, wobei „mittelgroß“ ein dehnbarer Begriff ist. Es gibt hier nämlich schlanke 1637 Kabinen, 18 Decks, 13 Bars, zwölf Whirlpools, fünf Restaurants, fünf Bars, ein Casino, einen Formel-1-Simulator, einen Basketball-Court, ein Spa und ein vollausgestattetes Fitnesscenter. 4363 Gäste passen in diese schwimmende Kleinstadt, die von der Grundfläche aber trotzdem nicht wesentlich größer ist als ein Fußballstadion. Und das heißt: Anders als in einer Kleinstadt kann man sich hier nicht aus dem Weg gehen. Es ist also die ideale Umgebung, um ein bisschen was über die Menschheit zu lernen. Zumindest über den Teil, der sich Kreuzfahrten leisten kann.

Was auf so einem Kreuzfahrtschiff passiert, ist wahrscheinlich bekannt. Wer sich dafür interessiert, hat die ganze Gigantomanie, die dahinterliegt, schon gesehen. Es gibt zahllose Fernsehdokus und Reportagenformate, von schlau bis dumm, von intellektuell verbrämt bis voyeuristisch verkaspert. Und Texte gibt es auch sehr viele: David Foster Wallace hat sich 1995 im Golf von Mexiko auf einen Luxusdampfer eingeschifft und dann für das „Harper’s Magazine“ aufgeschrieben, welche beklemmende Einsamkeit einen unter Tausenden Spaßbereiten befallen kann. Der Text „Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich“ ist eine der wohl besten Reportagen der vergangenen 30 Jahre. Anfang dieses Jahres war dann Gary Shteyngart für „The Atlantic“ unterwegs, sieben Tage auf der „Icon of the Seas“, dem aktuell größten Kreuzfahrtschiff der Welt. Zuletzt hat auch das „Zeit-Magazin“ ein Reporterteam losgeschickt, das wirklich tolle Fotos mit nach Hause gebracht hat. Was die großen Kreuzfahrttexte alle gemeinsam haben: Die Reporter waren auf den Luxusschiffen immer in der Luxusklasse unterwegs, für Shteyngart zum Beispiel hat „The Atlantic“ fast 18.000 Dollar ausgegeben, dafür bekam er eine Suite, die dann aber trotzdem nicht so ganz toll war, weil er nämlich keinen Ausblick hatte. Meine Tour war da deutlich geerdeter: 842 Euro kostete die Woche auf der „MSC Fantasia“. Mir war bewusst, dass man um dieses Geld keinen Ausblick erwarten kann, und das passte auch ganz gut, ich wollte sowieso eher Einblicke sammeln, meine Mitreisenden verstehen, vielleicht sogar von ihnen lernen. Aufgrund meiner Sozialisierung in Wien-Favoriten fehlt mir nämlich sowohl die Grundskepsis gegen diese Art von Urlaub als auch die Ironie und Distanz, die die großen amerikanischen Texte immer so lustig machen. Wie gesagt: Mir nimmt selten jemand den Koffer ab, selten führt man mich an der Hand bis zu meinem Tisch. So schlecht fand ich die ersten Stunden wirklich nicht. 

Es gibt vier Vorspeisen, sechs Hauptspeisen und sieben Nachspeisen, man kann so viel bestellen, wie man runterbekommt. „Die Portionen sind nicht üppig“, warnt uns eine Rentnerin, als wir bei Albert aus Madagaskar die Bestellung aufgeben. 

Wo beginnt man also eine Kreuzfahrt, auf der man Zuversicht lernen will? Auf dem Oberdeck eher nicht, da wird man schon nach wenigen Minuten von italienischen Mitreisenden angerempelt, die einen als Fotograf missbrauchen. Und wo ein Italiener eine Kamera hochhält, da hat immer noch ein anderer auch noch eine Kamera und dann noch einer und noch einer. Auf dem Zimmer eher auch nicht, da ist man erstens allein und zweitens sehr rasch in Foster-Wallace-Stimmung, vor allem, wenn man zu „Fleisch“-Budgets bucht. Es ist zwar alles da – ein großes, gemütliches Bett, ein fluffiger Teppich, ein Tisch mit Sessel, ein Fernseher, eine Dusche, aus der das Wasser so heiß läuft, dass es einem die Haut abzieht, sogar eine kleine Sitzecke und ein bisschen Kunst an der Wand –, nur ist es eben fensterlos, und das bringt eine neue Form der Dunkelheit mit sich. 

Ich gehe also essen. 

Die „Fantasia“ hat mehrere Restaurants, das Hauptrestaurant ist das sogenannte Red Velvet. Hier gibt es für jeden Gast an jedem Abend einen reservierten Platz für ein gesetztes Dinner. Das „Red Velvet“ zieht sich über zwei Stockwerke, hat insgesamt vier ident aussehende Eingänge und ist mit mehr rotem Samt ausgekleidet als jedes Bordell zwischen Palma und Wien, was aber hervorragend zu den mit dunklem Holz vertäfelten Decken und dem schwarzen Marmor passt. Als ich das Lokal betrete, entdecke ich einen Deutschen wieder, den ich noch von der Sicherheitseinweisung am Nachmittag kenne. Wir beide gehörten wegen unserer Kabinennummer der Gruppe D an. Er hat sich das überraschenderweise gemerkt und begrüßt mich deswegen begeistert mit „Gruppo D-D-D-osenbier!“ Seine Frau, offenbar weniger Anhänger von D-D-D-aydrinking, wünscht mir kopfschüttelnd einen guten Abend und zieht ihren Mann weiter. Mich bringt ein glatzköpfiger Italiener, der sich als „Gennaro“ vorstellt und der Restaurantleiter ist, zu meinem Platz: Ich sitze an Tisch 659, mit mir sind da zwei Frauen mittleren Alters, eine aus Hamburg in Deutschland und eine aus Hartberg in der Steiermark. Dann ist da noch ein Rentnerpaar, sie mit Pony, er mit Frisur und Bart wie ein Weihnachtsmann, beide aus einem Dorf an der deutsch-polnischen Grenze, und ein schweigsamer Mann um die 60, der nicht viel sagt, nur dass er allein hier ist, und das auch nur deshalb, weil vor seinem Baubüro derzeit eine Baustelle ist. 

Wir wollen einen unkomplizierten Urlaub haben, sagen die Rentner.

Wir wollen gar nichts machen, nur Spaß haben, sagen die Freundinnen. 

Ich will herausfinden, wie man die Zukunft nicht zappenduster sehen muss, sage ich.

Ich will wieder arbeiten, sagt der Schweigsame zwar nicht. Aber er will das. Nur das. 

Es gibt vier Vorspeisen, sechs Hauptspeisen und sieben Nachspeisen, man kann so viel bestellen, wie man runterbekommt „Die Portionen sind nicht üppig“, warnt uns die in MSC-Kreuzfahrten erprobte deutsche Rentnerin, als wir bei Albert aus Madagaskar die Bestellung aufgeben. Sie ist nicht die Einzige, die gute Tipps hat. Offenbar waren alle an meinem Tisch schon mehrmals auf Kreuzfahrt, alle außer mir. Ich lerne, dass man immer nur das kleine Getränkepaket nehmen soll (da sind dann alle Getränke bis sieben Euro inkludiert), dass Trinkgelder hier Wunder wirken und dass man auf hoher See das Handy auf Flugmodus stellen soll, der Maritime-Tarif, den es dort gibt, habe schon manchen die Urlaubskasse gesprengt. Instinktiv schaue ich auf mein Handy. Ich will Zuversicht – und keine Zusatzkosten. 

TAG 2 – DIE KUNST DES TRINKGELDGEBENS

Ich habe nicht wahnsinnig gut geschlafen, was entweder an der fensterlosen Kabine liegt oder an dem Burger, den ich mir gegen Mitternacht in der „Zanzibar“ gegönnt habe. Sie heißt wirklich so und ist auch genau so eingerichtet. Der Burger musste sein, weil: gratis. Jetzt bereue ich es sehr, mich am Vorabend mit der ostdeutschen Rentnerin von meinem Tisch zum Morning Stretch im Fitnessstudio verabredet zu haben, aber man will ja nicht schon am ersten Tag einen schlechten, unzuverlässigen Eindruck machen. Ich schleppe mich also hin. 

Das Fitnesscenter liegt ganz oben im Dachgeschoss und ist gar nicht so leicht zu finden. Wenn man es aber doch schafft, wird man mit einer grandiosen Aussicht aufs Mittelmeer belohnt. Also theoretisch: Jetzt ist es nämlich erst sieben Uhr morgens, da ist es noch dunkel. Außer zwei Pumpern und einer rothaarigen Frau ist niemand beim Morning Stretch. Der Ostdeutschen von meinem Tisch ist offenbar auch schon am ersten Tag der Eindruck, den sie hinterlässt, egal. Sie taucht nicht auf. Ich jogge ein bisschen vor mich hin und muss akzeptieren, dass man der Übelkeit im Magen nicht davonlaufen kann. Dann schaut der Trainer um die Ecke, verbindet sein Telefon mit der Musikbox und nimmt kurze Zeit später zufrieden zur Kenntnis, dass zu wenig Menschen für ein vernünftiges Morning Stretch erschienen sind. Er packt sein Handy wieder ein, ich steige vom Laufband und sehe in der Ecke einen kugelrunden schwarzen Franzosen auf und ab hüpfen. Boing. Boing. Boing. Ich kann nicht wegschauen. Er hat eine beeindruckende Aura und trotz seines Gewichts offenbar wahnsinnig elastische Gelenke in Knie und Knöchel. 

Kurz nach sieben hat man die „Fantasia“ noch fast für sich allein. Die „Glass Bar“ hat noch zu, aber im „Delle Fontane“ gibt es bereits Kaffee und Croissants. Im ganzen Schiff riecht es um diese Uhrzeit nach Eukalyptus, billigem Parfum und kurioserweise nach Chicken Nuggets, wobei ich die Ausgabestelle dafür erst nicht finde, dann aber der Nase nach gehe und in der „Zanzibar“ lande. Offenbar hat sie wirklich rund um die Uhr geöffnet. 

Ich schlage ein bisschen die Zeit tot, gehe erst in die Stadt (das Schiff hat es über Nacht bis nach Barcelona geschafft), komme aber bald zurück, esse Pizza mit Wurstbelag, mit Käse überbackene Nudeln, Fischkuchen und ein Stück Saibling. Ich sehe von Weitem meine Hartberger Tischnachbarin, sie trägt Bademantel und einen leuchtend orangen Cocktail. Plötzlich habe ich das Gefühl, dass ein bisschen Abstand gar nicht schlecht ist. Am Nachmittag spiele ich bei einem Tischtennisturnier mit (ich gewinne, obwohl sehr viele Asiaten teilnehmen), sitze eine gute Stunde mit Menschen im Whirlpool, die mich nicht verstehen, und ich sie auch nicht, und beobachte dabei rund 100 Senior*innen, die es sich am Sonnendeck auf Strandliegen gemütlich gemacht haben. Vollbekleidet.

Ich reise mit einem spannenden Publikum. Es sind weniger Pensionäre an Bord als erwartet, dafür sehr viel mehr Familien und junge Paare, als ich gedacht hatte. Kreuzfahren ist offenbar mittlerweile ein Mittelschichtsding geworden, etwas für Menschen, die sonst in Magic-Life-Clubs in Griechenland abhängen. Eines hat sich aber trotzdem bewahrheitet: Die Grundstimmung hier ist deutlich besser als an den Orten, an denen ich meinen Alltag verbringe. Ich frage mich: Ist in meinem Umfeld alles zu pessimistisch? Oder können die Menschen hier einfach besser ausblenden? 

Das Abendessen beginnt mit großer Aufregung. Zuerst einmal versetzt uns der schüchterne Deutsche, er isst offenbar lieber allein auf seinem Zimmer als mit uns. Dann schnauzt eine Chinesin von Tisch 605 Albert an, unseren Kellner Albert, weil er sie gebeten hat, ein bisschen enger am Tisch zu sitzen, damit er hinter ihr vorbeigehen kann. Erst brüllt sie herum, dann spuckt sie auch noch auf den Boden. Ruhe zieht erst ein, als Gennaro, der Restaurantleiter, ihr einen Drink bringt und verspricht, dass Albert in Zukunft einen großen Bogen rund um sie gehen wird, wenn er Essen oder Getränke bringt. Die Bösartigkeit der Chinesin kompensiert unser Tisch mit besonderer Nettigkeit gegenüber unserem Kellner, glaube ich zumindest. Andererseits: Es hatten alle einen guten Tag. Die Ostdeutschen besitzen seit dem Landausflug einen Kühlschrankmagneten in Form der Sagrada Família, die beiden Freundinnen aus Hamburg und Hartberg haben sich bei Primark auf den Ramblas neu eingekleidet. Nur was der schüchterne Deutsche getan hat, das wissen wir nicht, er hockt wahrscheinlich nach wie vor auf seinem Zimmer. 

Nach dem Abendessen gehe ich in die „Liquid Disco“, wo aber eine Veranstaltung im Gange ist, die eindrucksvoll beweist, dass Schamgefühl auf Kreuzfahrten normalerweise keinen Platz hat. Weil das bei mir anders ist, ziehe ich weiter zu einer Art „Dancing Stars“ im „Il Transatlantico“, bleibe aber auch dort nicht lang. Am Weg zurück in meine Kabine treffe ich die Hamburgerin und die Hartbergerin. Wir versumpern in der Raucherlounge, und es wird ein bisschen kindisch, als die Hamburgerin aus Jux und Tollerei versucht, durch ein kleines Fenster in der Wand zu klettern, und dabei stecken bleibt. Wir haben gut zu tun, sie wieder rauszubekommen, ihre Freundin schiebt von hinten, ich ziehe von vorn, es ist ein völlig surrealer Moment, und als wir sie endlich befreit haben, müssen wir unseren Sieg über das Wandfenster noch in der Bar feiern. Aus dem Nichts erzählt mir die Hamburgerin, dass bei ihr vor drei Jahren, mit Mitte 40, Parkinson diagnostiziert wurde. „Lebe jeden Tag, als wäre er dein letzter – kennt wer den Spruch?“, fragt sie. Ich nicke, aber definitiv mehr aus Höflichkeit. Die Hamburgerin wird jedenfalls in ein paar Monaten nach Mallorca ziehen. Eine Wohnung hat sie bereits, Job braucht sie keinen mehr. Wegen der Krankheit ist sie in Frührente gegangen. Mallorca tut mir gut, sagt sie, gesundheitlich, mental. Es ist auf jeden Fall gut, dass die beiden Freundinnen am Vortag den algerischen Barkeeper bereits mit Fünf-Euro-Scheinen als Trinkgeld gefüttert haben. Er versorgt uns deswegen unaufgefordert mit Bieren und Jägermeister, und das, obwohl in unserem Getränkepaket die Shots gar nicht inkludiert sind.

Trinkgeld, richtig eingesetzt, gibt einer Kreuzfahrt offenbar den richtigen Drive.

TAG 3 – GESCHEITERTE FLUCHT

Am nächsten Tag werde ich von einem dumpfen Hämmern geweckt. Das Schiff rüttelt, das Bett vibriert, mein Kopf scheppert. Wir sind im nächsten Hafen angekommen. Ich spüre die Jägermeister mehr, als ich befürchtet hatte. 

Ich bin verkatert und weiß nicht einmal, in welcher Stadt wir gerade sind. Zwei Tage reichen schon, um mich planlos zu machen? Gegen Mittag sitze ich in einer Busstation am Rande des Hafens von Marseille und überlege, ob Menschen wie meine neuen Freundinnen nicht die viel besseren Lifecoaches wären. Vielleicht sollten wir, bevor alles den Bach runtergeht, einfach die Hartbergerin ins Fernsehen setzen. Die kann nämlich wunderbar erklären, dass es kein Problem ist, wenn sich der eigene Sohn nach wenigen Wochen Ehe wieder scheiden lässt. Und dass es auch echt egal ist, wenn das eigene Lokal, das man lange Zeit mit riesigem Arbeitseinsatz versucht hat, über Wasser zu halten, schließlich doch pleitegeht. Und dass es schon okay ist, wenn man sich die Wohnung mit Meerblick, in der man seit Jahren auf Mallorca lebt, nicht mehr leisten kann. Es kommt immer was nach, hatte die Hartbergerin am Vorabend gesagt. Okay, sie hatte wirklich viele Jägermeister drinnen, aber es stimmt ja, es kommt immer was nach.

Und wenn es nur der Kater nach so einem Abend ist. 

Zurück am Schiff blicke ich im Vorbeigehen neidig in Kabine 12002, die gerade geputzt wird. Sie hat große Fenster, einen Balkon, ein großes rotes Sofa und einen Tisch aus Mahagoni. Ich sorge mich um den Teppich, so heftig wie der Mann vom Zimmerservice ihn gerade saugt, aber er wird schon wissen, was er tut. Dann ziehe ich mich zurück in meine dunkle Kammer. 

Als ich abends aufwache, spüre ich die leichte Depression, die ich immer kriege, wenn ich am Vortag getrunken habe. Ein Freund von mir hat eine Sportuhr, auf der er immer sein Aktivitätslevel nachlesen kann. „Energy Level low“, steht da meistens, wenn wir unterwegs waren. Und dazu die Handlungsanweisung: „Take a rest.“ Ich brauche keine Uhr, damit ich weiß, dass zumindest meine Social Batteries, wie man das jetzt nennt, zu low sind, um zum gemeinsamen Abendessen zu gehen. Ich streune über den Piazza San Giorgio, auf dem heute Parfums und Taschen der Marke Guess verkauft werden, komme an der „Manhattan Bar“ vorbei, in der das Duo Enjoy & Blu Wave Hits der 80er spielt, und bleibe beim Foto-Corner stehen, ohne den heute keine Event-Location auskommt, schon gar kein Kreuzfahrtschiff. Interessant, wer da aller mit mir reist. Ich sehe junge Familien, Frischverliebte, viele Rentner, eine Frau, die sich auf einen Rollator stützt, im Hintergrund eine goldene Treppe. Es ist eine Art von Optimismus, eine Sorglosigkeit, die ich so einfach nicht mehr kenne. 

Ganz hinten, auf „Deck 7 Aft“ – wenn man so will also am Arsch des Schiffes –, fiedelt in der „L’Insolito Lounge“ die Cool Band. Es ist nur eine Handvoll Leute hier, es handelt sich quasi um den Safe Space des Schiffes. Ich atme durch und lasse mich in ein tiefes Polstermöbel plumpsen. Erst jetzt bemerke ich, dass wir wieder weiterfahren. 

Der Blick auf die Wellen hat etwas Meditatives, sogar während die Cool Band ein „It’s My Life“-Cover spielt. Aber die Entspannung dauert nicht lange, die Bar füllt sich kontinuierlich. Erst kommt eine Gruppe Chinesinnen, dann ältere Italiener, wallendes Haar, weiße Leinenhose, Leder-Loafer und selbstbewusster Hüftschwung. Diese Kombination verheißt selten etwas Gutes, und in dem Fall bedeutet es: Tanzstunde! Ich überlege zu flüchten, aber es ist zu spät. Ali, ein Tanzlehrer in immer zu engen Hosen, hat sich bereits vor mir aufgebaut. Er will, dass ich bei seinem Samba-Kurs mitmache. „SI O SI?“, brüllt er, „YES OR YES, JA ODER JA?“ Ich habe keine Lust, aber auch keine Chance. Ali zieht mich auf die Tanzfläche, und ich gehorche. Auch in Zwangsbeglückung findet man das Wort Glück.

Man muss vielleicht nur etwas länger danach suchen. 

TAG 4 – GENERATION CRAZY

Beim Frühstück in der „Zanzibar“ sitzt ein Mann, der seit dem ersten Tag das gleiche T-Shirt anhat. Auf der Brust ist ein Faultier abgebildet, darunter steht in Versalien „KEEP CALM“. T-Shirts mit lustigen Sprüchen sind immer bedenklich, also außer wenn sie Gary Shteyngart für seinen Boots-trip für „The Atlantic“ trägt, und auch wenn der Typ aus der „Zanzibar“ nicht der New Yorker Schriftsteller ist, das Faultier beruhigt mich gerade. Mag ich nach drei Tagen am Boot echt T-Shirts mit lustigen Sprüchen? Was ist mit mir?

Wer weiß, vielleicht verkrampfen wir im Alltag zu sehr, denke ich mir, während ich einen fluffigen Pancake mit Erdbeersauce reinstopfe, vielleicht müssen wir bei dem Wahnsinn, den wir täglich erleben, einfach glauben, dass die Zukunft schlimmer wird. Wir, die Generation nach der neuen „Generation Sorglos“, also den Alten, erleben ja auch einen Bruch. Die Welt wird plötzlich nicht mehr automatisch besser. Wir werden nicht reicher, sozialer und schon gar nicht friedlicher. Aber wir vergessen dabei auch ganz gern, dass nicht wenige von uns gegenüber den heutigen Pensionisten einen Startvorteil hatten, dass wir studieren konnten, vielleicht sogar ein Auslandssemester hatten. Doch was nützt das, wenn es immer wärmer wird, Trump US-Präsident und Kickl vielleicht Chef der stärksten Partei? Und was machen wir da mit Lena Schilling?

Beim Abendessen treffe ich wieder meine Tischrunde, es sind alle anwesend außer dem schweigsamen Deutschen, der weiter lieber am Zimmer isst. Die Rentner von der deutsch-polnischen Grenze sagen, sie haben sich Sorgen um mich gemacht, weil sie mich den ganzen Tag nicht gesehen haben. Es rührt mich tatsächlich sehr. Aber ich war ja auf dem Segway durch Genua unterwegs. „Genua war scheiße“, sagt die Hartbergerin dann, wegen der anstehenden Flower-Party mit einem Blumenkranz im Haar, und ich bin ehrlich begeistert ob ihrer rohen Art. Ich entdecke auf ihrem Arm eine Tätowierung, die ich bis jetzt nicht gesehen hatte. „No me importa nada“ steht da, das heißt: „Ist mir egal“. Vielleicht interpretiere ich zu viel in sie, aber die Frau ist in ihrer entwaffnenden Ehrlichkeit ein neues Spirit Animal für mich. Zumindest hier an Bord. Und alles andere ist mir gerade egal. 

Ich weiß nicht, wie es bei meinen neuen Freunden zu Hause aussieht, welches Auto sie fahren, wie sie ihre Wohnungen eingerichtet haben und vor allem: wie sie sie finanzieren. Schopenhauer glaubte, dass Glück durch die Reduktion von Wünschen und Akzeptanz des Lebens erreicht werden kann. Ich kann da nur von mir selbst sprechen und muss mir eingestehen: Ich krieg das nicht ganz hin. Für immer von der Hand in den Mund zu leben, macht mich nervös, vor allem, wenn ich an die Zukunft denke. Ich bin ja nicht nur allein auf der Welt und nur für mich verantwortlich. Aber andererseits: Hier am Schiff sind meine Verpflichtungen nicht dabei. No me importa nada. Und der Rest wird sich weisen.

Bei Kreuzfahrten gibt es ein paar Eigenheiten. Eine davon ist, dass die Menschen am Tag und am Abend unterschiedlich miteinander agieren – und das liegt vor allem am Internet. Sobald das Schiff den Hafen verlassen hat, haben nämlich nur noch die Netz, die das schweineteure Satelliteninternetpaket gebucht haben, was aber, weil es wirklich wahnsinnig teuer ist, niemand tut. Auf See gibt es keine Telefone mehr, kein FaceTime, kein Instagram oder TikTok. Wenn man jetzt nicht dauernd am Zimmer vorm Fernseher sitzen oder allein ein Buch lesen will, bleibt einem nichts anderes übrig, als sich zu unterhalten. Das ist für Menschen aus meiner Generation eine seltsame Erfahrung – aber das muss nicht zwingend schlecht sein. 

Ich treffe wieder die Hamburgerin und die Hartbergerin, wir trinken ein paar Bier-Jägermeister-Kombos, dann wollen sie ins Casino an die Automaten und ich auf Deck 16 in die „Liquid Disco“. Die ist voll mit Italienern aus allen Altersgruppen, Teenager genauso wie 70-Jährige. Auch der italienische Eintänzer mit der schönen Frisur und dem Ohrring, den ich beim Samba intensiv beobachtet hatte, ist wieder da. Heute trägt er ein zu enges Givenchy-Shirt und einen riesigen beigen Nike-Rucksack, dessen Inhalt ein Geheimnis bleibt. Er dreht sich, hüpft, moonwalkt und schreit alle paar Minuten entweder „veeeeeeenga“ oder „meeeeeega“, so genau versteh ich es nicht. Er scheint mit sich im Reinen. Sehr im Reinen. 

Ich ziehe mehrmals heftig an meinem Gin Tonic (das Trinkgeld der beiden Freundinnen hat mittlerweile dafür gesorgt, dass ich auch ein inoffizielles Upgrade meines Getränkepakets genießen darf) und quatsche die deutsche Frau neben mir an. „Warum glauben so viele, dass es in Zukunft schlechter wird?“, frage ich sie ansatzlos. Die Frau nimmt einen Schluck, beugt sich zu mir rüber und ruft mir ins Ohr: „Na, wenn Se des auch glauben, ändern Se doch was?“ Der DJ spielt die Techno-Version von „Gimme! Gimme! Gimme! (A Man After Midnight)“, der Bass hämmert mir ihren Satz tiefer ins Gehirn. Es läuft „Mamma Mia“, „Y.M.C.A.“ und „Barbie Girl“, und wer weiß, vielleicht hat sie recht, vielleicht sind wir, bin ich zu starr, zu unflexibel geworden. Sie zieht weiter an ihrem Getränk, beobachtet ihren Mann, der von der Musik völlig enthemmt, beinahe oberkörperfrei auf der Tanzfläche steht. Dann beugt sie sich noch mal zu mir rüber. Ist ihr noch was dazu eingefallen? – „Weißte, when der Deutsche goes mal crazy, geht er crazy.“

TAG 5 – EIN UNERWARTETES LOB

Ich habe einen Termin bei der „Hair Consultation“, was ein bisschen absurd ist, weil so viel Consulting brauchen meine Haare nicht mehr, so ehrlich muss man sein. Die Stylistin, eine junge Rumänin mit Rehaugen, sieht das zwar ähnlich, dürfte aber den Positivismus-Crashkurs meiner Hartberger Freundin absolviert haben. Nachdem sie mein lichter werdendes Haupthaar befühlt hat, meint sie nämlich lediglich: „Mhhh, they will not get more.“ 

Ich werde nicht widersprechen.

Das Abendessen findet heute ohne Hartberg und Hamburg statt, stattdessen erfahre ich von den beiden ostdeutschen Rentnern, dass sie keinen Hunger haben wegen des ganzen Angebots den ganzen Tag über. Dabei kann der Rentner eigentlich ein paar Extrakalorien vertragen, sagt seine Frau, er arbeitet nämlich noch nebenbei in einem Sägewerk. „Weil er zu Hause sterben würde vor Langeweile“, meint sie. „Weil die Leute mich brauchen und ich mir dann so was wie hier leisten kann“, sagt er und breitet die Hände über den Tisch wie Jesus beim letzten Abendmahl. 

TAG 6 – SCHÖNE MENSCHEN ÜBERALL

Wir landen in Neapel, und in der Schlange vor dem Aussteigen treffe eine ältere Französin, die ebenfalls allein unterwegs ist. Sie hat den Zipp ihrer Handtasche mit einem kleinen Schloss verriegelt, und ich gratuliere ihr zur schlauen Entscheidung. In Neapel kann man ja nie sicher sein, was Taschendiebe betrifft, sage ich. Sie lacht und erklärt mir dann, dass sie das Schloss für die Zeit am Schiff angebracht hat und nicht für die Landgänge. Wir schlendern gemeinsam durch die Stadt, sehen Schreine des Fußballstars Diego Maradona, entdecken ein Plakat eines Friseurs, der sämtliche Fußballer-Frisuren anbietet, vom Paul-Pogba-Irokesen bis zur Francesco-Totti-Matte. Sie meint, dass ich zu pessimistisch sei und alles, was mir Angst mache, vor allem eine gefühlte Wahrheit sei. Früher war jeder optimistisch, sagt sie, auch wenn es damals genauso Kriege und Inflation und Wirtschaftskrisen gab. Die Menschen haben aber gedacht, dass sich irgendwie schon alles ausgehen werde, und bis dahin musste man einfach nur Café au Lait trinken. Ich frage sie, ob sie immer noch optimistisch ist. Sie guckt mich verwirrt an: „Wäre doch traurig, wenn nicht.“

Den Trick, Menschen zu loben, um ihnen damit ein gutes Gefühl zu geben, habe ich mir von unserem Tischkellner abgeschaut. Der hat neulich den deutschen Rentner sogar dafür gelobt, dass er Eiswürfel für seinen Rotwein bestellt hat. 

 

Zurück auf der „Fantasia“ treffe ich am Gang die freundliche Dame, die immer mein Zimmer zusammenräumt, wenn ich es verlasse. Sie heißt Guponovi und nennt mich weiter Sir, obwohl ich ihr meinen Namen gesagt und somit eine Art Du angeboten habe. Ich will mit ihr reden, sie hat aber keine Zeit. Ich verlasse das Zimmer und laufe am Gang in eine Horde Italiener in engen Pullovern, zerrissenen Hosen und so viel Parfum, dass sich sogar der Duft selbst fluchtartig in den Gang verkriechen möchte. Sie sind, wie viele andere Italiener, in Neapel an Bord gekommen und werden auf den letzten Seemeilen bis Mallorca den Ton angeben: In Italien haben nämlich gerade Uniferien begonnen, und offenbar gibt es für italienische Student*innen keinen besseren Ort, sich volllaufen zu lassen, als billige Kreuzfahrtschiffe mit ihren kleinen Getränkepaketen. 

Als ich an meinen Tisch zum Abendessen komme, stelle ich fest, dass heute die große „Fête Blanche“ ist, und die beiden Mädels aus Hartberg und Hamburg enttäuschen mich nicht. Ich sehe die beiden schon vom Eingang weg weiß leuchten. Die Hamburgerin hat sich beim Landgang extra eine weiße Jogginghose mit Emporio-Armani-Logo besorgt, die Hartbergerin einen sehr auffälligen Zip-Hoodie mit glitzerndem Löwenkopf und der Aufschrift „Legend“, zur Sicherheit gleich mehrmals am Hoodie. „Mega!“, sage ich und merke, wie sehr das die beiden freut. Den Trick, Menschen zu loben, um ihnen damit ein gutes Gefühl zu geben, habe ich mir von unserem Tischkellner abgeschaut. Der hat neulich den deutschen Rentner sogar dafür gelobt, dass er Eiswürfel für seinen Rotwein bestellt hat. „Good decision, Sir“, hat er gesagt. Der Rentner hat sich gefreut, und Albert hat sich seinen Teil gedacht. Ich nehme mir vor, das in Zukunft auch öfter zu machen. (Gratuliere übrigens, dass Sie bis hierher gelesen haben, Sie lesen aber schnell!)

Nach dem Essen gehe ich mit den beiden weißen Mäusen in die Raucherlounge und trinke Jägermeister. Die Hartbergerin hat die Barmannschaft so trainiert, dass sie ihr die Stamperlgläser so voll machen, dass man vorsichtig runterschlürfen muss. Die Hamburgerin erzählt von einem Investment im brasilianischen Dschungel und von ihrem Mann, dem Workaholic, der mit so etwas Trivialem wie Schädlingsbekämpfung reich wurde. Die nächsten Wochen, sagt sie, werden bei ihr ganz schön tough: jetzt die Kreuzfahrt, dann Umzug, dann die Tochter drei Wochen in Amerika besuchen, dann drei Wochen Reha, weil Parkinson. 

Weiter zur „Fête Blanche“. Ein Akrobat jongliert drei große Holzschüsseln. Dann steht er auf einer Hand und balanciert gleichzeitig mit Holzstäben alle drei Schüsseln, und zwar mit Fuß, Kopf und Unterlippe. Auf der Bühne steht ein brasilianischer Animateur mit Piratentuch auf dem Kopf. Neben ihm tanzt mein marokkanischer Freund Abdul, der untertags die Tischtennisturniere veranstaltet oder beim Bingo die Lose verteilt. „All of you, tutti, are very good dancers“, schreit der Brasilianer. Ich stehe zwischen der Hartbergerin und einem überragend riechenden Typen mit Klobrillenbart. Wir tanzen zu „Waka Waka“, dann zu DJ Ötzis „Hey Baby“ und ziehen zu „Can’t Stop The Feeling!“ endlich in einer Polonaise durch den Saal. Die Hartbergerin singt so laut mit, dass es in den Ohren sticht, und ich verordne ihr eine Trinkpause. An der Bar steht die Hamburgerin, nimmt einen Schluck Mineral, rülpst und sagt: „Verzeihung, ich bin nur ein Mensch. Aber ein schöner Mensch.“ 

TAG 7 – EINMAL NOCH ALLES RAUSHOLEN

Der letzte Tag auf dem Schiff ist etwas Besonderes: Es ist ein sogenannter Seetag, wir fahren eineinhalb Tage durch, bis zu meinem Reiseende in Mallorca. Ich wache mit dem sicheren Gefühl auf, heute noch mal alles aus der Kreuzfahrt rauszuholen. Um neun Uhr starte ich in der „Manhattan Bar“ auf Deck 7 mit den beiden Rentnern von Tisch 658 mit „Stretching with your Dance Instructors“ in den Tag, und dieses Mal versetzt mich die Oma auch nicht, neun Uhr passt offenbar besser in ihren Biorhythmus als sieben Uhr morgens. Sie ist top motiviert, ihr Mann trägt ein nicht weniger motiviertes Outfit, zur sehr kurzen Läuferhose das Harley-Davidson-Shirt, das ich schon aus dem Restaurant kenne. Seine Stretching-Bewegungen sind so ungelenk, dass ihn die Instruktorin einmal sogar mit entsetzter Stimme fragt: „Man, what are you doing with your body?“ 

Meine beiden Freunde gönnen sich nach dem Stretching noch eine Aerobic-Einheit, ich muss aber weiter. In der „La Cantina Toscana“ kann man mit buntem Papier, Schaumstoff und Styroporbällchen unter Anleitung Bilderrahmen basteln. Warum das mit dem Altershinweis 18+ versehen ist, werde ich bis zum Schluss nicht verstehen. Ebensowenig, warum so viele Menschen gerne freiwillig Bilderrahmen basteln, obwohl sie dem Kindergartenalter entwachsen sind. 

Ich ziehe weiter, durch die verschiedenen Themenbars: das „Il Cappuccino“, die „Sports Bar“, das „Il Transatlantico“. Ich sehe Menschen dabei die absurdesten Dinge tun und stelle fest, dass mir vieles davon sehr viel normaler vorkommt als davor. Verliert man auf einer Kreuzfahrt die Scham? Und wenn ja, ist das schlecht? Ich werde die Hartbergerin dazu noch mal fragen. 

Um zehn Uhr spiele ich im „I Tropici“ mein drittes und letztes Tischtennisturnier in dieser Woche. Ich treffe dabei wieder jenen Amerikaner, der seine eigenen Schläger dabeihat und Tischtennis so verbissen anlegt, dass ihn alle Zuschauer gerne verlieren sehen. Es ist sehr viel los an Bord, auf dem Sonnendeck sind alle Liegen belegt, es gibt ein Gedränge um die zwölf Whirlpools. Es sind deutlich mehr Menschen an Bord als in den vergangenen Tagen. Neapel, wird der Restaurantleiter Gennaro am Abend erzählen, hat das Schiff fast voll gemacht. 

Ich gehe durchs Casino, das vormittags immer etwas eigenartig riecht, wenn sich das frische Putzmittel mit dem Nikotin und den ausgeschütteten Getränken der Nacht vermischt. Es ist nicht viel los, aber die Hamburgerin hält an ihrem Lieblingsautomaten, dem mit dem riesige Smiley, die Stellung. Beim Bingo gewinne ich nichts, bekomme vom Moderator am Ende aber zumindest ein freundliches „Hakuna Matata“ zugerufen. Bei „Masterchef@Sea“, einer interaktiven Kochsendung, scheitere ich beim Quiz schon in der ersten Runde, weil ich keine Ahnung habe, was Arachibutyrophobie ist (die Angst, dass einem die Erdnussbutter am Gaumen kleben bleibt), es stört mich aber nicht, so komme ich gerade noch rechtzeitig zum Spiel „Men vs. Woman“. Acht Männer treten in einer der Bars mit großer Tanzfläche gegen acht Frauen an. Kennedy, der Animateur, der vorhin noch die Bingo-Tickets verkauft hat, klatscht uns Männern grüne Farbe ins Gesicht, wir nennen es Kriegsbemalung. Die Frauen bekommen keine Farbe ab, nennen ihr Team „Sexy Ladies“. Wir sind „Macho Men“, was sonst. Jede Mannschaft hat einen Signature Move, unserer ist, die Arme so durch die Luft zu werfen, als wären sie Schwerter, und das mit einer eindeutigen Hüftbewegung abzuschließen. Die Spiele sind voller Frohsinn, es kommen dabei Hula-Hoop-Reifen vor und ein Eierlaufen wie beim Kindergeburtstag. Am Ende geht der Kampf der Geschlechter unentschieden aus. Erfahrene Kreuzfahrer sagen, dass das leicht vorauszusehen war. 

Vor dem Abendessen gehe ich zurück aufs Sonnendeck, wo es zum ersten Mal in dieser Woche kein Sonnenstrahl durch die Wolkendecke schafft. Seit ich beim Friseur war, werde ich von der Belegschaft für meine neue Frisur gelobt, das Rentnerpaar macht mir im „Red Velvet“ ein Kompliment für mein Poloshirt. Ist es nicht nett, nett zu sein? Weil die Hamburgerin und die Hartbergerin heute ein Spezialmenü im schiffseigenen Steakhaus gebucht haben, sind wir nur zu dritt am Tisch. Gemeinsam gehen wir danach zur sogenannten Captain’s Speech und schauen uns die letzte Show im „Teatro L’Avanguardia“ an. Es sind locker mehr als 1000 Leute im Saal, es passiert alles, was ich bisher nur in YouTube-Dokumentationen über Kreuzfahrten gesehen habe, und es ist mehr Irrsinn zu sehen als beim Mainzer Karneval. 

Bevor ich mich aufs Zimmer verabschiede, umarmen mich die beiden Rentner zum Abschied. 

Ich komme in das verrauchte Casino und entdecke am Smiley-Automaten die Hamburgerin. Heute läuft es bei ihr, sagt sie, sie sei schon mehr als 600 Euro im Plus. In meiner Kabine dusche ich noch mal so heiß, wie das zu Hause gar nicht möglich ist, und kuschle mich in meinen Bademantel, den ich habe, seit ich für die Putzfrau gut Trinkgeld zurückgelassen habe. Dafür, dass eigentlich gar nichts los war in dieser Woche, habe ich viel erlebt: fünf Städte, einige sehr surreale Bekanntschaften, und dann vor allem eine Belegschaft, die das Wort „Nein“ nicht kennt. Nicht im Restaurant bei einem Nachschlag beim Lachs, nicht beim Samba, beim Line Dance oder beim Bachata – und schon gar nicht, wenn es darum geht, sich in eine Polonaise einzureihen. Oder wie Ali, der Tanzlehrer, so nett fragt: Ja oder Ja?

Ich weiß nicht, ob ich optimistischer geworden bin. Aber ich weiß, dass ich sehr viel mehr Jägermeister vertrage als noch vor sieben Tagen. Und das ist, wenn es hart auf hart kommt, keine ganz schlechte Basis.

Erschienen im Frühjahr 2024. Fleisch 70 – Wann hat die Zukunft ihren Glanz verloren? - ist bestellbar im Abo oder als Einzelheft unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! 

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