Kateryna Lysovenko hat Magenschmerzen und das nicht erst seit gestern. Sie sind zu heftig, um sie zu ignorieren, es gibt schon einen Termin beim Arzt, aber damit es bis dahin nicht noch schlimmer wird, ist Lysovenko lieber vorsichtig. „Oh Gott!“, sagt sie deshalb, als die Kellnerin im Wiener Café Goldegg ein riesiges Frühstück bringt, Tablett auf Schulterhöhe, sehr beschwingt. „Wenn schon, dann heißt das oh Göttin“, sagt die Kellnerin, lacht, sagt es gleich noch einmal und lacht gleich noch mehr, weil an dem kleinen, runden Kaffeehaustisch überhaupt kein Platz für das riesige Frühstück ist. Es ist ein schöner Wien-Moment: Feminismus und Magenschmerzen, Milde-Sorte-Lachen und ein Tisch voller Salat, aber Cremeschnitten und Schnaps in Reichweite.
Das ist nie schlecht, aber schon gar nicht, wenn man gerade ein paar raue Wochen hinter sich hat. Bei Kateryna Lysovenko ist das der Fall, und das hat mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine zu tun und mit den Folgen dieses Krieges – auch an Orten, an denen er fast schon wieder vergessen ist. Oder vergessen sein möchte. In Wien, zum Beispiel, wo Lysovenko lebt, oder in Berlin, wo sie in diesem Herbst ausstellen hätte sollen, sich aber drei Tage nach der Eröffnung dachte: Nein, so geht das nicht.
Zu viel ist passiert, das nicht in Ordnung für sie ist: Im Katalog wird der 24. Februar 2022 als Beginn des Krieges genannt, tatsächlich begann der aber für Ukrainer:innen bereits mit der Annexion der Krim im Sommer 2014. Außerdem wird ein Gedicht der so wichtig gewordenen Dichterin Victoria Amelina zitiert, und zwar, ohne die Erlaubnis dafür einzuholen. Amelina starb im Juli in Kramatorsk, sie saß in einer Pizzeria, die Russland mit einer Bombe angriff.
Und dann war da auch noch der Titel der Ausstellung: „Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“. Das ist der Titel eines Films von Alexander Kluge, dem deutschen Alt-68er, der im Frühling 2022 gefordert hatte, dass Europa keine schweren Waffen an die Ukraine liefern soll. „Ohne Waffen wäre die Ukraine vernichtet“, sagt Lysovenko. Das war zu viel, sie zog ihre Bilder zurück. Dana Kavelina, die zweite ukrainische Künstlerin in dieser Ausstellung, tat es ihr gleich. Wo ihre Werke hingen, beleuchten nun Spots kahle Wände und das soll eine Leerstelle zeigen: Hier fehlt die Ukraine, weil die Künstlerin nicht damit einverstanden war, was die Kuratorin geschrieben hat. Die Kuratorin ist Russin. Es gab einen kleinen Skandal, ein paar Menschen war die Sache unangenehm, aber damit hatte es sich irgendwann auch.
Für Kateryna Lysovenko ist das alles nicht ganz so schnell abgehakt. Sie schläft jetzt wieder besser, sagt sie. Der Schulalltag ihrer Kinder gibt wieder den Takt vor, die Vorlesungen sind wieder angelaufen und sie arbeitet viel.
Wenn sie ihre Bilder auf Instagram zeigt, dann kommen jetzt auch wieder weniger persönliche Kommentare und mehr Feuer-Emojis, weil ihre Kunst oft sehr direkt ist, sticht und brennt. Rund um die Ausstellungseröffnung in Berlin wollten die Menschen dauernd, dass sie sich erklärt. „Ich hätte sicher mehr recherchieren und weniger vertrauen sollen“, sagt Lysovenko. Und: „Ich dachte zu lange, dass Katya den Kontext versteht, aber sie verstand ihn nicht.“
Katya Inozemtseva hat die Ausstellung in Berlin kuratiert, sie tat das im Auftrag des Brücke-Museums und des Schinkel Pavillons; zwei Tanker der deutschen Hochkultur haben sich mit ihren Sammlungen und neuen, zeitgenössischen Positionen dafür zusammengetan. Wer sollte da glauben, dass dabei irgendwas schiefgeht?
Wo alles kompliziert ist, will sie es sich nicht zu einfach und damit alles schlimmer machen
Kateryna Lysovenko fällt auf, wenn sie ein Café betritt, sie ist ziemlich groß, 32 Jahre alt, hat zwei Kinder und studiert an der Akademie der bildenden Künste. Sie spricht hervorragend und vor allem sehr schnell Deutsch, weil sie früher einmal den Plan hatte, für ihre Malerei nach Leipzig zu gehen. Man merkt, dass sie bestens in feministischer Theorie geschult ist, sie spricht oft von Agency, von Selbstbestimmung. Immer wieder verbessert sie sich selbst, um präzise zu sein. Wo alles kompliziert ist, will sie es sich nicht zu einfach und damit alles schlimmer machen. Wenn dein Land von Russland angegriffen wird, liegt über deinen Beziehungen zu Russ:innen jetzt der Krieg.
Katya Inozemtseva ist nicht irgendjemand. Bevor sie im März 2022 von Moskau nach Mailand zog, war sie die Chefkuratorin des Garage Centres for Contemporary Art in Moskau, mit dem der Oligarch Roman Abramovich und seine damalige Frau Darja Schukowa zeigen wollten, dass sie nicht nur Fußballklubs kaufen können, sondern auch Kunst. Das Museum steht im Gorki Park, Rem Koolhaas hat dafür ein zerfallenes Gebäude umgebaut, alles ist schick, hip, angesehen und auch innovativ – und lange sehr weit weg von Putin und Politik.
Der Protest, als Garage bei der Triennale 2017 die Krim in einer Ausstellung Russland zurechnete, war zwar da, aber überschaubar. Die Annexion der Krim und der Krieg im Donbas hatten auch nicht zum totalen Ende jeglicher Zusammenarbeit zwischen ukrainischen und russischen Institutionen geführt. Nach über 18 Monaten ununterbrochener Angriffe auf die Ukraine wird das nun aber alles anders bewertet.
Der Kontext hat sich geändert.
Inozemtseva trug 2017 nicht die Hauptverantwortung, war aber Teil des Teams von Garage. Freund:innen und Bekannte hatten Lysovenko davor gewarnt, mit ihr zusammenzuarbeiten. Sie habe zum Establishment gehört und nicht zur Opposition. Kurz vor der Eröffnung ihrer Ausstellung in Berlin war der Druck in der ukrainischen Community groß, sich zu distanzieren, obwohl Inozemtseva den Krieg eindeutig verurteilte.
„Ich verstehe, wenn viele Ukrainer:innen den Boykott aller russischen Kulturschaffenden fordern, für mich selbst funktioniert das jedoch nicht“, sagt die Künstlerin. Sie wollte die Zusammenarbeit mit Inozemtseva nie grundsätzlich ausschließen. Wer präzise sein will, handelt nicht pauschal. Aber dann waren da diese sehr präzisen Fehler im Katalog und Lysovenko konnte nicht anders, als ihre Teilnahme zurückzuziehen.
In Zukunft will sie genauer schauen, ob die einzelne Person auch wirklich den Kontext versteht, und der Kontext ist schlicht:
„Es ist schrecklich, in einer Autokratie zu leben. Es ist aber einfach nicht das Gleiche, wenn du aus dem Land kommst, auf das diese Autokratie Tag für Tag Raketen regnen lässt, um das Land, deine Familie und alles, was damit zusammenhängt, zu vernichten.“
Natürlich hätte es in Berlin jemandem auffallen können, dass der Verweis auf Kluge im aktuellen Zusammenhang nicht klug und das Klauen eines Gedichts von einer Dichterin, die russische Kriegsverbrechen dokumentierte, selbst eine Art dokumentiertes Verbrechen ist. Dafür hätte man genau hinschauen müssen. Anerkennen, dass die Menschen aus den beiden Ländern unterschiedlich betroffen sind und die Flucht in den Westen sie nicht gleich macht. Realisieren, dass sich Friede und Versöhnung nicht einfach vorwegnehmen lassen, auch wenn das Hunderte Initiativen im Westen noch so sehr wünschen. Lysovenko, die auch Aufträge verloren hat, weil sie sich in Berlin nicht eher distanziert hatte, stellt sich die Frage: „Ist das alles so schwer zu verstehen?“
Ein paar Wochen später sitzen wir in der Konditorei Hirsch in Wien-Liesing, gleich beim Bahnhof, Lysovenko ist in die Gegend gezogen, weil ihr der Stadtrand lieber ist. Es klingelt, wenn die Türe aufgeht. Die Kaffeemühle rauscht, aber wir trinken Tee, weil er gegen die Kälte und gegen die Magenschmerzen gleichzeitig hilft. Kurz kann ein Mann mit Hut sich nicht zwischen Punschkrapfen und Schokomaroni entscheiden, dann nimmt er einfach beides. Eine ältere Frau schimpft ihren Dackel, der ständig sein Hinterteil an ein Sesselbein reibt, während sie ein Stück Apfelstrudel isst.
„Die Österreicher:innen glauben, dass der Krieg weit weg ist, dass er sie nichts angeht, aber so ist das nicht“, sagt Kateryna Lysovenko. Wie viele Sätze Lysovenkos ist auch dieser mehr Analyse als Urteil. Sie beobachtet die Menschen, sie erfasst Situationen, um sie in ihre Einzelteile zu zerlegen, sie interessiert sich für Geschichte und wie sie nachwirkt: „Wenn du aus der Ukraine kommst, musst du dich für Geschichte interessieren, weil sie mit dir gemacht wird.“
Wenige Wochen, nachdem Russland Kyiv angegriffen hatte, kamen sie und ihre Kinder mit einem Stipendium nach Polen, mit dem nächsten ging es nach Graz, dann schließlich nach Wien. Am Anfang hat sie ständig analysiert, welche Häuser einer Straße sicher wären und welche nicht. Jetzt wünscht sie sich manchmal ein Auto, für den Fall, dass sie wieder schnell wegkommen müsste. Wie viele Ukrainer:innen ist sie sicher: Wenn Russland die Ukraine besiegt, kommen nach und nach die nächsten Länder dran. Es sei naiv, die Augen davor zu verschließen, da nütze auch die Neutralität nichts, und wenn man sich – wie viele junge österreichische Künstler:innen – für Kolonialgeschichte und Unterdrückung interessiert, könne man statt nach Afrika auch einfach von Wien aus in Richtung Osten schauen, ganz ohne zeitliche und räumliche Distanz.
In Wien aber ist der Schock verblasst. Vielleicht wissen ein paar Menschen noch, wo sich in ihrer Nähe Bunker befinden, weil sie das im Februar 2022 einmal heimlich gegoogelt haben, vielleicht stehen bei ihnen auch noch Konserven, Taschenlampen und Batterien herum, die sie damals kauften. Aber die Panik ist weg. Der Krieg läuft. Er rauscht im Hintergrund, er hat die Inflation gebracht, er macht müde. Seit dem 7. Oktober und dem Krieg in Gaza ist alles noch anstrengender. Die Zweifel, ob ein fauler Friede in der Ukraine da nicht besser wäre, werden zumindest rechts außen schon gesät. „Die Ukrainer werden weiterkämpfen, weil sie wissen, was auf dem Spiel steht“, sagt Lysovenko, während ein Mann mit Laptoptasche zehn Krapfen bestellt, weil schon Fasching ist.
„Wenn du aus der Ukraine kommst, musst du dich für Geschichte interessieren, weil sie mit dir gemacht wird.“
Wie alle Menschen in der Ukraine hat der Krieg auch Lysovenko vor die Frage gestellt: Was machst du jetzt? „Du kannst kämpfen, aber für eine alleinerziehende Mutter ist das keine Option. Du kannst auch nicht volontieren oder große Summen spenden. Also arbeitest du, und meine Arbeit ist die Kunst“, sagt Lysovenko.
Der Krieg habe daran gar nicht so viel geändert. Entmenschlichung, Gewalt, das seien schon immer ihre Themen gewesen, da hat sich Russland ab 2014 fast logisch eingefügt: „Kunst kann im Krieg eine Art Dokumentation sein, ein Archiv bilden.“ Aber eigentlich sollte Kunst einfach Kunst sein. Ohne Zweck, ohne Einordnung, ohne Interpretationsleitfaden: „Wenn dein Land im Krieg ist, fragst du dich ja manchmal, ob deine Arbeit aus Mitleid gezeigt wird oder weil sie gut ist“, sagt die Künstlerin. Auch dieser Satz ist mehr Analyse als Vorwurf.
Lysovenko wird gerade ziemlich oft ausgestellt. Eines ihrer Bilder auf der Kyiv Biennale in Wien zeigt Artefakte, die sich in der Eremitage in Sankt Petersburg befinden, darunter sind syrische Münzen, die erst 2011, also während Russland Raketen auf Aleppo schickte, in die Sammlung gekommen sind. „Who owns the past?“, lautet der Titel. Ein anderes Bild zeigt ein ermordetes Kind neben einer aus der Vulva blutenden, offenbar vergewaltigten und dann ermordeten Frau. Es stammt aus der Serie „They can repeat“ und bezieht sich auf den Slogan „We can repeat“. Putin holt ihn seit 2014 immer wieder hervor, für den „Kampf gegen den Faschismus“, für die „Einnahme von Berlin“. Die Serie verweist darauf, dass das Grauen, mit dem Russland Teile der Welt überzieht, schon seit dem ersten Tschetschenien-Krieg Mitte der 1990er-Jahre immer gleich aussieht – wenn man es sehen will. Es ist ein altes Muster der Menschheit, auszublenden, was einen nicht direkt betrifft. Nicht zufällig greift Lysovenko auf mythologische Darstellungen zurück.
Wenn man in Wien lebt, kann man durch die Ausstellung gehen und kurz wieder realisieren, dass sich in Europa etwas fundamental verschoben hat. Die Ukraine hingegen kämpft. „Wenn dein Land im Krieg ist, bekommt alles eine Bedeutung, wirklich alles, du kannst dir das nicht aussuchen und du kannst dich dem auch nicht entziehen“, sagt Lysovenko. „Du musst dich um alles kümmern, weil alles jederzeit verschwinden kann: die Menschen, die Landschaft und die Tiere, aber auch die Träume und Wünsche, sogar das, was du noch gar nicht verstehst, kann verschwinden, und wenn du überlebst, wenn du am Leben bist, dann musst du dafür sorgen, dass so viel wie möglich bleibt.“
"We can repeat" - Putin holt diesen Satz seit 2014 immer wieder hervor, für den „Kampf gegen den Faschismus“, für die „Einnahme von Berlin“, mit dem Russland Teile der Welt überzieht.
Für die Ausstellung in Berlin hatte Lysovenko zum Beispiel Vyacheslav Mashnitsky gemalt, einen Künstler-Kollegen aus Cherson, dem sie nie persönlich begegnet, aber ewig auf Facebook gefolgt ist, weil er jemand war, der die junge Kunstszene aufbaute und die Naiv-Künstlerin Polina Rajko wiederentdeckte, der also lauter Aufgaben erfüllte, für die es in Österreich oft Geld vom Staat gibt, in der Ukraine aber nicht.
Als Russland 2022 die Stadt Cherson einnahm, verschwand Mashnitsky. Auch nach ihrer Befreiung tauchte er nicht wieder auf. „Cherson konnte sich nicht verteidigen, weil der Stadt damals die Waffen fehlten, so wie der ganzen Ukraine die Waffen fehlen, die Menschen wie Alexander Kluge ihr verwehren wollen“, sagt Lysovenko. Im März 2022 waren es Leute wie Kluge, die das forderten, heute sind es Leute wie Donald Trump in den USA, Victor Orbán in Ungarn, Robert Fico in der Slowakei und Herbert Kickl in Österreich. Das ändert den Kontext für die Ukraine gewaltig.
Ein paar Tage, nachdem Kateryna Lysovenko ihre Bilder aus Berlin abgezogen hatte, bezog sie übrigens auf Instagram zu allem Stellung und schrieb über den Zustand des Krieges: „Nichts bleibt neutral. Ganz generell. Du schaust auf Länder, Menschen, Institutionen und schaust, ob sie dir dabei helfen werden, zu überleben, oder ob sie dabei mithelfen werden, dass du stirbst.“
Es ist ein Zustand, der uns in Österreich völlig fremd ist.
Erschienen im Winter 2023
Fleisch #69 - Ein Jahr vor Kickl