Das Experiment beginnt mit einer E-Mail: „Ich möchte keine solch despektierlichen Nachrichten mehr von dir bekommen, die einen einfach nur runterziehen.“ Die Finger zittern, als ich tippe: „Dein Umgang mit mir ist nicht in Ordnung, die Zusammenarbeit oft cringy. Du bist herablassend, das tut mir nicht gut. Vielleicht sollten wir uns künftig aus dem Weg gehen.“ Es ist eine Person, mit der ich seit mehr als 15 Jahren zusammenarbeite – nicht in meinem Unternehmen, aber doch so, dass dieses Verhältnis freundlich oder gar kollegial sein sollte. Das ist es aber nicht, die Person ist arrogant und böswillig, und das musste nun mal raus. Es tut gut, das zu schreiben. Es ist: befreiend.
Okay: Nicht alles, was gesagt oder geschrieben werden muss, muss dann auch immer auch gehört oder gelesen werden, und gewöhnlich lösche ich solche Mails wieder, bevor ich sie wegschicke. Doch nicht jetzt, nicht heute, nicht zu Beginn dieses Experiments, von dem ich – das gleich vorneweg – jedem raten möchte, es selbst einmal zu probieren: Radical Honesty, brutale Ehrlichkeit, in diesem Fall 72 Stunden lang. Die erste Lehre gibt es sogleich, denn die meisten denken bei ehrlichen Worten erst einmal: Ach herrje, was wird denn der/ die andere nur denken?
Was auf diese Mail nämlich passiert: überhaupt nichts, noch nicht mal eine Antwort. Die Person hat meine ehrlichen Worte einfach nur geschluckt, vielleicht sogar verstanden. Das Gefühl ein paar Tage später: erleichtert, und auch ein bisschen stolz. Und sollte die Person nun beleidigt sein: Na und? Sie weiß nun wenigstens, wie ich über sie denke. Jetzt kann sie an sich arbeiten – oder es lassen.
Ich habe dieses Experiment vor zwölf Jahren schon einmal durchgeführt, 40 Tage lang habe ich das damals durchgezogen, und ich habe darüber das Buch „Du sollst nicht lügen“ geschrieben. Ich kann mich erinnern, dass ich deswegen ordentlich auf die Fresse gekriegt habe (von meinem besten Freund, weil ich seiner Verlobten damals ehrlicherweise erzählt habe, dass er sie betrügt), ich habe sehr viel Geld verzockt (knapp 2.000 Euro, weil ich meine Steuererklärung ohne jegliche Tricksereien ausgefüllt habe), und es gibt eine ehemalige Kollegin (der ich ehrlich gesagt habe, was ich beruflich und menschlich von ihr halte), die bis heute kein Wort mit mir redet.
Es war hart, und dennoch sage ich noch immer darüber: Ich habe selten so viel gelernt wie in diesen sechs Wochen; genau deshalb will ich es nun erneut versuchen; weil sich die Welt doch ein bisschen verändert hat seitdem, aber auch ich, und ich weiß, dass es am Ende des Wochenendes zu einem radikal ehrlichen Gespräch mit meiner Frau kommen wird müssen, bei dem die Frage gestellt wird: Wenn du mich heute kennenlernen würdest – wenn ich also in eine Bar käme, was würdest du denken? Würdest du mich überhaupt bemerken? Und wenn wir uns jetzt, ohne Vorgeschichte, eine Stunde lang in dieser Bar unterhalten würden: Würdest du dich auch jetzt in mich verlieben?
Am Wochenende des Tests heiratet mein bester Freund, und meine Frau probiert am Freitagabend ein paar Kleider an – ich soll sie beurteilen. Sie ist erwachsen, hat eine gefestigte Persönlichkeit, los geht’s: Kleid eins: „Hängt wie ein Kartoffelsack.“ Kleid zwei: „Schaut aus, als wärst du der 102. Dalmatiner!“ Kleid drei: „Nein, darin sieht dein Arsch unfassbar fett aus!“
Ein paar Parameter haben sich nicht verändert, da wäre der Unterschied zwischen Ehrlichkeit und Wahrheit – Wahrheit ist objektiv, Ehrlichkeit subjektiv, das ist so gesetzt. Ein Beispiel: Wenn jemand liest, dass ein Fußballspiel 1:1 geendet hat, und das seinem besten Freund auch so mitteilt (obwohl in Wirklichkeit in der 93. Minute das 2:1 gefallen ist), dann hat er zwar nicht die Wahrheit gesagt, aber auch nicht gelogen. Zur Lüge gehört die Absicht der Täuschung, also: Wenn jemand um des lieben Friedens willen der Freundin mitteilt, dass ihre Frisur zauberhaft sei (obwohl man denkt, dass sie gar scheußlich ist), dann lügt man, aber: Was ist die Wahrheit bei der Beurteilung von Frisuren?
Das führt zum zweiten Experiment beziehungsweise zur ersten notgedrungenen Pause: Mein Sohn, zwölf Jahre alt, hat am Montag einen wichtigen Mathematik-Test. Er ist nicht unbedingt schlecht, es muss bei ihm nur immer alles schnell gehen, er hat keine Lust auf Details und doppelte Kontrolle, und er hat leider Angst vor Prüfungen wie dieser. Große Angst. Wir üben, zwei Stunden am Samstag und zwei Stunden am Sonntag, und irgendwann, da weiß er nicht einmal mehr, was zwei plus zwei ist – und deshalb müsste ich jetzt sagen: „Sohn, wenn du morgen so rechnest wie jetzt, wird das nur deshalb eine Sechs, weil es nichts Schlechteres gibt.“
Kurzer Einschub: Mein Vater hat, als ich so alt war wie mein Sohn heute, nach einer Schulaufgabe unter die Note geschrieben: „Werter Lehrer, es ist eine Frechheit, dass Sie meinem Sohn eine Vier gegeben haben. Das ist eine Sechs!“ Damit sollte geklärt sein, mit welcher Form von Ehrlichkeit ich aufgewachsen bin.
Aber was soll ich tun? Meine ehrliche Einschätzung ist: Mathe-Fähigkeiten minus Schludrigkeit minus Angst vor Tests – sollte eine Drei werden. Soll ich ihm das sagen? Nein, ich kann das nicht, alles sträubt sich, es ist ein Kind, und es geht ihm eh schon nicht gut – ich muss den Joker ziehen in dem Experiment und ich wähle stattdessen die schönste Form der Lüge, bei der man einem anderen helfen möchte. Ich denke mir also Aufgaben aus, die auf den ersten Blick schwer wirken, aber eigentlich einfach zu lösen sind. Er schafft alle Übungen, und deshalb kann ich ihm halbwahr auch sagen: „Du kannst das alles, das wird sicher eine Eins.“ Am Morgen des Tests noch mal leichte Übungen und noch eine geschummelte Prognose: „Eins, ganz sicher!“
Das Ergebnis: Eins minus.
Bedeutet das, man sollte immer schwindeln fürs Selbstbewusstsein lieber Menschen? Nein, sollte man natürlich nicht. Am Wochenende des Tests heiratet mein bester Freund, und meine Frau probiert am Freitagabend ein paar Kleider an – ich soll sie beurteilen. Sie ist erwachsen, hat eine gefestigte Persönlichkeit, los geht’s: Kleid eins: „Hängt wie ein Kartoffelsack.“ Kleid zwei: „Schaut aus, als wärst du der 102. Dalmatiner!“ Kleid drei: „Nein, darin sieht dein Arsch unfassbar fett aus!“
Ja, es ist mir völlig klar, dass jetzt sämtliche Bodyshaming-Alarmglocken läuten und ein paar Sexismus-Glocken dazu; aber es ist meine ehrliche Meinung, und genau die wollte meine Frau doch hören. Sagt sie zumindest immer. Sicher, ich hätte natürlich eine höflichere Aussage wählen können, ich hätte auch ausweichen können („Farbe ist nicht schön“), schließlich sind kleine Notlügen das Schmiermittel der Gesellschaft – sie sorgen für ein friedliches und freundliches Zusammenleben – und zeigt der Blick auf soziale Medien wie Twitter nicht gerade, welch verheerende Konsequenzen es haben kann, wenn jeder ungefiltert (und vor allem anonym) seine Meinung mitteilt? Wie eine Gesellschaft zerbricht?
Es funktioniert aber auch andersrum: Meine Frau sagt mir immer, und zwar in aller Härte, wenn meine Witze unlustig sind, und sie sagt mir auch, wenn ich mich wie ein verdammtes Arschloch aufführe. Das tut manchmal weh, aber es schützt mich manchmal auch vor mir selbst.
Nun, im Fall meiner Frau ist es so: Müsste ich nicht diesen Text schreiben (und meine Frau verzichtet nur deshalb auf die Abtrennung eines Fingers oder Testikels, weil ich versprochen habe, das Honorar in ein Skateboard für unseren Sohn zu investieren), bliebe die Aussage unter uns. Sie wollte einen Grund wissen, warum ich das Kleid nicht mag, es hatte ihr nämlich sehr gut gefallen, also war ich ehrlich und wir beide wissen nach so langer Beziehung: Wir tun das nicht, um uns zu verletzen, sondern zu schützen. Lieber sage ich ihr, was ich ehrlich von dem Kleid halte, anstatt um des lieben Friedens willen zu lügen. Sie hätte das Kleid gekauft und nicht annähernd so viele Komplimente bekommen wie für das, das sie stattdessen anhatte.
Es ist Ehrlichkeit, um einem anderen Menschen zu helfen, so wie es für meinen Sohn eine Lüge war, um ihm zu helfen – und wie es böswillige (und damit unnötige) Ehrlichkeit ist, dass ich auf der Hochzeit einem meiner besten Freunde sagen muss, dass sein Hemd viel zu klein ist und er darin aussehe wie eine schwangere Seekuh. Er sagt, was ich über mich selbst denke: „Was soll das denn jetzt?“
Es funktioniert aber auch andersrum: Meine Frau sagt mir immer, und zwar in aller Härte, wenn meine Witze unlustig sind, und sie sagt mir auch, wenn ich mich wie ein verdammtes Arschloch aufführe. Das tut manchmal weh, aber es schützt mich manchmal auch vor mir selbst. Auf dieser Hochzeit nämlich gibt es diesen Moment, in dem ich überlege, eine Rede zu halten, die meiner Meinung nach urkomisch ist. Sie sagt jedoch: „Nein, das wirst du nicht tun.“ Es gibt wieder die Amputations-Drohung (diesmal nur den Testikel), und jetzt, ein paar Tage später, wenn ich darüber nachdenke, glaube ich, sie hatte recht. Wahrscheinlich hätte ich mich wahnsinnig blamiert und den Bräutigam gleich mit.
Besonders während dieser Tage merke ich, dass ich mich sofort wieder in meine Frau verlieben würde. Sie braucht nämlich kein Experiment, um mich zu einem besseren Typen zu machen. Sie sagt geradeaus, wenn sie mich gerade unausstehlich findet, wenn ich ihrer Meinung nach wieder sexistisch war oder meine Texte miserabel sind. Ich denke mir: Wenn sie das nicht tun darf – wer dann? Wie würden wir sonst irgendwas lernen, wenn es keinen gibt, der einem ehrlich seine Meinung sagen darf?
Zeigen uns soziale Netzwerke nicht, wie borniert wir werden, wenn wir nur in unserer Filterblase leben, wenn wir nur Kommentare auf die schönsten (und, klar, vorher bearbeiteten) Fotos zulassen? Wenn wir jede Form von Kritik als böswillige Hassrede abtun? Wenn wir ein Alter Ego kreieren, das aber überhaupt nichts zu tun hat mit der Person, die wir nun mal sind? Wir führen ein Schauspiel auf, nur damit unsere Bekannten so tun, als wären wir so toll, wie wir denken. Ich finde das traurig.
Nur: Muss man deswegen wirklich immer ungefiltert seine Meinung sagen? Nein, muss man nicht. Auf der Hochzeit etwa hätte ich ein paar Anmerkungen zu Kleidung und Gesichtsbehaarung von Gästen gehabt – aber bei Radical Honesty gibt es glücklicherweise klare Regeln: Nein, nur, wenn man gefragt wird, geht man damit raus oder wenn man das dringende Gefühl hat, was sagen zu müssen. So wie bei der zu Beginn erwähnten Mail. Man muss also nicht durch den Saal laufen und mit der Wahrheit wild um sich werfen.
Was man aber schon machen sollte: So ehrlich zu der Bedienung sein, dass das Steak die Konsistenz einer Schuhsohle hat. Er steht neben mir, verdutzt, ich sitze einen Stock tiefer, denke aber nicht an Unterwürfigkeit und lege nach: „Und wo wir nun schon dabei sind: Sie sind sehr unfreundlich.“ Die Konsequenz: Der Kellner wird zur höflichsten Person des ganzen Abends. Es ist ein bisschen überraschend, aber so wie es aussieht, hat das, wie bei der ehrlichen Mail zu Beginn, nur positive Auswirkungen gehabt. Obwohl ich natürlich nicht weiß, ob er mir in den Nachtisch gespuckt hat. Er schmeckt allerdings köstlich und weil ich so ehrlich bin, sage ich ihm das auch.
Gerade im deutschsprachigen Raum leben sehr viele Leute nach dem Motto „Nichts gesagt ist gelobt genug“, die höchste Form der Begeisterung drückt sich mit einem „Kannste echt nicht meckern“ aus.
Es braucht Mut, so was zu sagen, und das führt zur eigentlich einfachsten und doch so komplizierten Aufgabe des Experiments: ehrliche Komplimente. Gerade im deutschsprachigen Raum leben sehr viele Leute nach dem Motto „Nichts gesagt ist gelobt genug“, die höchste Form der Begeisterung drückt sich mit einem „Kannste echt nicht meckern“ aus. Was passiert also, wenn man auf dieser Hochzeit einem deutschen Freund ganz ehrlich mitteilt: „Dein Outfit rockt! Der Bart: genial. Und überhaupt finde ich, dass du ein ziemlich toller Typ bist. Wollte ich dir mal sagen.“
Die Reaktion, kein Witz: „Bist du besoffen? Oder was willst du von mir?“ Es ist verblüffend, ist es wirklich schon so weit, dass ein ehrliches Kompliment verdächtig wirkt? Dass der andere einen Hintergedanken vermutet? Oder bin ich vielleicht derart stoffelig, dass ein Bekannter es mir nicht glaubt, wenn ich ehrlich nett bin? Ich denke lange darüber nach, und ich komme zu dem Schluss: Es muss eine Mischung aus beidem sein. Ich muss mutiger sein, viel öfter ehrliche Komplimente machen, hoffen, dass meine Freunde dann nicht mehr denken, ich würde sie anlügen, weil ich was von ihnen will.
Das Wochenende verläuft bis auf kleinere Ausnahmen – nämlich eine ehrliche Debatte mit einem Impfgegner, der die Covid-Maßnahmen mit dem Holocaust vergleicht – durchweg positiv, und diese sowie eine andere Begegnung (Ich sage zu einem Autofahrer: „Du fährst, als hättest du einen Schlaganfall gehabt.“ Seine Antwort: „Ich hatte vor einigen Wochen wirklich einen.“) zeigen mir: Man sollte auch auf sozialen Netzwerken nur sagen, was man auch im wirklichen Leben zum anderen sagen würde. Und auch, dass meine Meinung nicht die Wahrheit ist, sondern letztlich nur meine Meinung. Diese Unterscheidung ist wichtig, immerhin haben wir manchmal ja keine Ahnung, was der andere gerade durchmacht.
Kann das also funktionieren, immer ehrlich sein? Ich glaube, ja, es würde funktionieren, wenn die Menschen als Spezies (wir werden ja, das sehen wir an Kindern, als durchweg ehrliche Lebewesen geboren) verlernen würden, dass einem die Lüge Vorteile verschafft oder Nachteile verhindert. Weil das nicht passieren wird, vergleiche ich die lügenlose Zeit mit einer Nulldiät: Nein, man kann nicht nichts essen – aber man wird sich danach bewusster ernähren. Ich lüge nun bewusster und werde mich in Zukunft öfter fragen, ob jetzt die kleine Lüge wirklich sein muss, oder ob es nicht, so wie als Kind, besser ist, einfach ehrlich zu sein. Das mag jetzt vielleicht pathetisch klingen, gegen Ende eines solchen Experiments aber glaube ich, Ehrlichkeit ist oft der schwierigere, doch letztendlich der bessere Weg.
Also dann, nach 72 Stunden Ehrlichkeit und viel weniger blauen Flecken als beim letzten Mal: Die Frage an meine Frau, wie sie denn ehrlich einschätzen würde, ob ich, hier und jetzt, eine Chance bei ihr hätte. „Ich würde mir schon denken: schnuckeliges Kerlchen“, sagt sie dann und weiter: „Aber du kannst gemein sein und arrogant und ziemlich weird bist du auch und auch sehr anstrengend. Es ist gut, dass wir uns oft aus dem Weg gehen.“
Ich denke mir: Puh, Glück gehabt. Doch dann dämmert es mir, Moment mal, ist das nicht etwa die Mail, die ich an diese schreckliche Person geschrieben habe? Ich sollte also schnell anfangen, an mir zu arbeiten, damit meine wunderbare Frau meine wunderbare Frau bleibt. Es ist wirklich gut, das zu wissen.
Erschienen im Herbst 2021. Fleisch 61 – Wahrheit – ist bestellbar im Abo oder als Einzelheft unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!