Schnell noch ein paar Buchtipps
Olivia Wenzel – 1000 Serpentinen Angst
S. Fischer, 21,60 Euro
Eine Ich-Erzählerin, die mal in New York, mal in Berlin, mal ganz anderswo ist und immer den Abgleich macht: Gehöre ich dazu? In einer Art Interview geht die Erzählerin der Frage nach, was das heute überhaupt heißt. Der Sog ist enorm, der Humor schräg und der Rassismus sehr greifbar. (Gut, wenn man die Wut mal auf etwas ohne Corona umleiten will)
Scott McClanahan – Sarah
Souverän lässig übersetzt von Clemens Setz
Ars vivendi, 22,80 Euro
Verlierergeschichten sind oft die besten Geschichten, und Scott, der komplett neben sich steht und im Auto vorm Walmart darauf wartet, dass sich seine Frau Sarah das mit der Scheidung noch einmal anders überlegt, ist ein sehr super Verlierer. Lustig und schräg, aber immer genau dann arg und irre und schlau, wenn es droht, harmloser Indie-Country aus West Virginia zu werden. (Für Verlierer-Versteher)
Bernadine Evaristo – Mädchen, Frau etc.
Ab Ende Jänner auf Deutsch von Tanja Handels
Tropen, 25,70 Euro
Zwölf Frauen, die meisten davon schwarz, sind hier über Zufälle und Verwandtschaft und Freundschaft miteinander verwoben. Die Geschichten nehmen die gängigen Klischees genauso auseinander wie aktuelle Fragen zu Feminismus und Rassismus, sie sind so komisch und ein bisschen irre wie das Leben, und sie erzählen Geschichte und ein wieder anderes Großbritannien, das ein paar von uns sehr in der EU vermissen werden. (Für alle, die an das Große im Kleinen glauben)
Ayad Akhtar – Homeland Elegien
Claasen, 24,70 Euro
Der Sohn pakistanischer Einwanderer wird in den USA ein erfolgreicher Schriftsteller, sein Vater, der Arzt, wählt 2016 Trump, und das darauf folgende „Bist-du-deppert?!“ des Sohns durchzieht dieses dicke, schnelle, teils essayartige Buch, das dem Schriftsteller Episode um Episode durch die USA nach 9/11 folgt, durch den Hass auf Muslime und ihre Reaktionen darauf, durch das einstige stolze Einwandererland und den einst herbeigeträumten Sehnsuchtsort, diese oberflächliche, glitzrige Reichtumslüge. So unterhaltend wie brutal, unheimlich intelligent gebaut, sehr sehr gut. (Für Menschen, die glauben, Literatur helfe, die Welt besser zu verstehen)
Christine Wunnicke– Die Dame mit der bemalten Hand
Berenberg, 22,70 Euro
Elephanta, eine Insel vor Bombay, Ende des 18. Jahrhunderts. Der Kartograph Carsten Niebuhr ist vom deutschen Göttingen aus auf Forschungsreise nach Arabien unterwegs, der persische Astronom Musa al-Lahuri ist eigentlich auf Pilgerreise nach Mekka und auch irgendwie auf der Insel gestrandet. Sie könnten da gemeinsam ein bisschen herumforschen, aber wie sollen sie sich verständigen? Aus diesem gelehrten Kuddelmuddel wird ein großer, kleiner Roman, lakonisch und präzise erzählt, voll mit Bezügen zu echten Ereignissen und der Frage, von welcher Perspektive aus wir die Welt sehen. (Für Träumer und die Familien-Gelehrten)
Nicolas Mathieu - Rose Royal
Hanser, 18,50 Euro
Andere hätten aus diesem Stoff einen 500-Seiten-Klotz gezimmert, der großartige Nicolas Mathieu verdichtet die Geschichte der Normalo-Frau Rose – leichter Hang zu schwerem Alkohol und noch schwerer angeknacksten Männern – zu einer Fast-Novelle. Wahnsinnig genau in den Beobachtungen, großzügig in den Auslassungen, eine riesige Welt auf wenigen Seiten. (Für Wenigleser könnte das die Einstiegsdroge sein )
Raven Leilani – Luster
McMillan, 25,20 (Momentan nur auf Englisch erhältlich)
Edie, Anfang 20 und schwarz, will Malerin werden, beginnt aus purer Langeweile ein Verhältnis mit einem älteren weißen Mann, zieht irgendwann bei ihm, seiner Frau und dem gemeinsam adoptierten Kind ein und alles wird extrem unangenehm an diesem Ort der unterdrückten Gefühle. Die Spannung ist kaum auszuhalten, die Sprache direkt, die Sexszenen unpeinlich. (Wer das Verloren-Sein mit Anfang 20 vermisst, wird es danach nicht mehr tun)
Judith Zander – Johnny Ohneland
dtv, 25,70 Euro
Joana Wolkenzin, Johnny genannt, will weg, erst weg aus der DDR, dann von allem, was von der DDR übrig ist, sie geht nach Finnland, später in die USA, sie entdeckt die Liebe und dass es eine Liebe zu Frauen ist, sie entdeckt die Sprache und dass sie keinem linearen Denken folgen muss. Zander ist Lyrikerin und dieser sanfte, wilde, zärtliche, rastlose, verspielte Roman poetisch wie nur was. (Wer mit dem Begriff "normal" nichts anfangen kann, ist hier richtig)
Jonas Eika – Nach der Sonne
Hanser, 20,60 Euro
Surreal gute, unvorhersehbare Erzählungen zwischen Strand und Bett, Ausbeutung und Begehren. Ein komisches Gefühl stellt sich beim Lesen ein: das der Machtlosigkeit.
Marius Goldhorn – Park
Suhrkamp, 14,40 Euro
Arnold und Odile sind ein Paar, sie kennen sich von einer Party in Berlin, sie leben zwischen London, Athen und sonstwo, so wie das halt so war vor Corona, und machen Kunstsachen, wie das damals halt irgendwie immer ging. Alles kompliziert, aber auch irgendwie nicht. Geklärt wird das in unzähligen Nachrichten, laufend am iPhone, rund um die Welt. Ist das nervig und ultraprivilegiert? Ja. Aber so ist es halt auch, das Jetzt. (Für alle, die von der Leere der Gegenwart nicht genug haben können)
Anna Wiener – Code kaputt: Macht und Dekadenz im Silicon Valley
Droemer, 18,50 Euro
Weil das Leben in der New Yorker Verlagswelt prekär, aber auch fad war, zog Anna Wiener ins Silicon Valley, mal schauen, was da so geht. Sie arbeitet in einem Start-up, das Daten analysiert aka für andere Kunden ausspioniert. Im Kundensupport UND dann auch noch als Frau spielt Wiener null Rolle in dieser Welt, die sie bei ausgeprägter Gründer-Hörigkeit und Weltherrschaftsfantasien umso genauer beobachten kann. Sie macht das ohne europäischem Technikhass und Snobismus, sie lässt sich darauf ein, ohne die Distanz ganz aufzugeben. Eines der besten Bücher über das Silicon Valley, schnell und lakonisch geschrieben. (Rebecca Solnit hat dem Buch mit dem bescheuerten deutschen Titel einen super Blurb gegeben: „Joan Didion for Start-ups“. Stimmt.)
Michael Sandel – Vom Ende des Gemeinwohls
S. Fischer, 25,70 Euro
Der amerikanische Moralphilosoph zerlegt das, woran viele von uns so gerne glauben: Dass es nur um die Leistung geht, dass die, die nach oben kommen, das aufgrund ihrer Fähigkeiten tun. Die Pseudo-Mertitokratie habe laut Sanders vor allem in den USA zu einer Elite geführt, die noch ruchloser sei als Eliten davor: Wo es Gewinner angeblich durch Leistung geschafft haben, sind die Verlierer ja einfach nur selbst Schuld. Voller Fakten zu den USA, voller Gedanken, die wir uns auch in Europa machen sollten. (Man muss nicht gegen Leistung sein, um das interessant zu finden)
Und P.S.
Cees Nooteboom – Venedig. Der Löwe, die Stadt und das Wasser
Suhrkamp, 24,70
Für alle, die nächstes Jahr hinfahren und Joseph Brodsky schon gelesen haben
Vielleicht ist da ja noch was dabei.
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