Es ist aus, vorbei, sie haben mich. Ich weiß noch nicht genau, was sie alles wissen, aber sie haben in jedem Fall: Meinen Namen. Meine Handy-Nummer. Mein Instagram-Profil. Meine Sozialversicherungsnummer. Sie müssten also eigentlich wissen, dass ich nicht nur die liebe Politologie-Studentin mit entschieden zu viel Tagesfreizeit und Taschengeld bin, die seit Tagen scheinbar zufällig immer dort ist, wo sie sind. Sie, das wären: Sebastian Kurz, sein Wahlkampfteam und die gesamte österreichische Polizei.
Ich stehe in Murau in der Steiermark, ein paar Schritte abseits vom Hauptplatz, es ist noch nicht mal Mittag, und in der vergangenen Stunde habe ich mehr Zigaretten geraucht als an einem durchschnittlichen Samstagabend im „Werk“. Ich bin einfach nervös. Ich hatte schon früh gemerkt, dass irgendetwas nicht stimmt. Seit ich in Murau aufgetaucht und mich vor Sebastian Kurz’ Rednerpult gestellt habe, war es komisch. Immer mal wieder hat jemand aus seiner Entourage in meine Richtung gestarrt, sie haben getuschelt: die Selfie-Queen, der Hipster und der Kleine, und vor gut 20 Minuten hat mich dann Michael Jungwirth aus der Menge rausgezogen. Nein, nicht der richtige Michael Jungwirth, der Journalist der „Kleinen Zeitung“, sondern der eine aus dem Kurz-Team, der ihm so verdammt ähnlich sieht, dass ich ihn so nenne. Ob ich einen Ausweis dabeihabe, hat er mich gefragt, er müsse mich kontrollieren, weil ich auf so vielen Kurz-Veranstaltungen dabei war. Dann hat er mir eine Dienstmarke gezeigt, auf der irgendetwas mit „Innenministerium“ draufstand. Als er dann versucht hat, meine E-Card mit seinem alten iPhone, bei dem die Scheibe total zersprungen war, zu fotografieren, war ich kurz etwas entspannter – wenn die Polizei bei uns den De-facto-Kanzler mit komplett kaputtem Material beschützt, dann sind wir vielleicht doch deutlich weiter von einem Überwachungsstaat entfernt, als manche denken.
Trotzdem war ich nervös. Denn was sollte ich jetzt tun?
Anders, als Michael Jungwirth denkt, bin ich nämlich nicht erst seit ein paar Tagen hinter Kurz her – sondern seit fast zwei Monaten. 3.000 Kilometer kreuz und quer durch Österreich sind es bisher, immer in seinem Windschatten. Nein, ich bin keine Stalkerin. Ich will Kurz weder Böses noch Nettes, ich will ihn weder mit Farbbeuteln bewerfen, noch will ich ein Kind von ihm, ich war immer höflich, habe ihn nie bewusst gestört und auch nie mehr als das Nötigste mit ihm geredet. Ich will – oder wollte – einfach Selfies mit ihm. Insgesamt 50, das ist – das war – mein Ziel.
Aber jetzt stehe ich bei Bild zwölf, ich stehe in Murau, also gefühlt am Ende der Welt, es ist Ende August, es ist sauheiß, ich habe eine bescheuerte Jeans-Hose und ein noch bescheuerteres schwarzes Sakko an, beides frisch vom H&M, ich sehe aus wie die JVP-Vorsitzende von Wulkaprodersdorf und ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll. Zum nächsten Kurz-Termin nach Leibnitz weiterfahren und so tun, als wäre nichts gewesen? Oder die Aktion abbrechen? Echt keine Ahnung, außerdem gehen mir die Zigaretten aus.
Scheiße.
Das ist der Anfang der Geschichte "Kurz im Bild". Erschienen im Sommer 2019. Fleisch 53 – "50+1 Gründe, warum Politik trotzdem super ist" –ist bestellbar im Abo oder als Einzelheft unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!