Viel Lärm um nichts?

Fleisch 69, Winter 2023 
Text: Sandra Jungmann
Fotos: Niko Havranek                        

Zwischen Südosttangente und Gasometer stehen seit kurzem drei riesige Wohnblöcke. Das wäre an sich nichts Besonderes, hätte es nicht kurz nach der Eröffnung geheißen, dass sich die neuen Bewohner über einen ziemlich traditionsreichen Nachbarn beschwert hätten: die Arena.

Falls das stimmt, dann wäre es wirklich bescheuert: Wie kann man neben Wiens bekannteste Konzertlocation ziehen und sich dann über den Lärm beschweren? Was sind das bloß für Menschen? Wir haben versucht, sie zu finden. Und es war gar nicht so einfach.

Freitagnachmittag, wolkenloser Himmel und mehr als 20 Grad, aber es gibt Orte in dieser Stadt, da hilft das alles nichts. Der Platz in der Mitte des Hochhausquartiers „The Marks“ ist so ein Ort: Ganz egal, wie lange man hier herumsteht, man bleibt allein. Hin und wieder sind zwar Menschen zu sehen, aber sie verschwinden sofort in Richtung U3. Oder sie gehen irgendwo im magischen Dreieck der Peripherie verloren – dem von „Hofer“, „Billa“ und „Spar“. Gut, der Platz ist nicht sehr einladend, es stehen nur ein paar graue Stühle herum, die so aussehen, als hätten sich die Menschen, die dieses Riesending geplant haben, gedacht: Verdammt, irgendwas müssen wir hier auch noch hinstellen. Aber trotzdem: Warum ist da niemand? In den drei Wohntürmen rund um den Hof leben immerhin fast 3.000 Menschen. Will von denen niemand einfach nur rumsitzen? Oder mit dem Roller fahren? Fußball spielen? „The Marks“ ist eine dieser neuen Wohngegenden, die derzeit in Wien hochgezogen werden.

Die Stadt wächst, Wohnraum ist knapp, um Angebot und Nachfrage nicht komplett auseinanderdriften zu lassen, muss also gebaut werden, wo es nur geht. Auch hier in Simmering, gleich neben der Südosttangente, der am stärksten befahrenen Straße des Landes. Das Areal teilt sich auf drei Türme auf: den „Q-Tower“, den „Helio-Tower“ und den „The One“. Jeder der Türme wurde von einem anderen Architekten gestaltet, es gibt Pools – Indoor und Outdoor –, Fitnessräume, Saunen, Dampfbäder, Dachterrassen, Spielplätze und Kindergärten. Gebaut wurde ab September 2019, im Frühsommer 2023 zogen die ersten Bewohner:innen ein und trotzdem weiß mittlerweile so ziemlich jede:r halbinformierte Wiener:in, dass in diesen drei großen Türmen einige Querulant:innen wohnen. Denn die drei Türme sind nicht nur neben der Südosttangente, sie sind auch neben der Arena, eine der wichtigsten Veranstaltungslocations des Landes. Und einige der Bewohner:innen zogen hierher, um dann draufzukommen: Hoppla, da ist es ein bisschen laut. Sie beschwerten sich und kurioserweise hatten ihre Beschwerden tatsächlich Erfolg – Partys wurden abgesagt, Konzerte verlegt, Petitionen gestartet. Wir wollten wissen: Wer steckt dahinter? Und begaben uns auf die Suche – in drei Türmen und insgesamt 107 Stockwerken.

Hauptplatz vor dem „The One“: Katharina mit ihrer Tochter

In einem dieser Türme wohnt Katharina. Vor ein paar Wochen ist sie mit ihrem Freund und ihrer sieben Monate alten Tochter erst hier eingezogen. Die meisten, die Kinder kriegen, versuchen, rauszuziehen ins Grüne, sie machten es umgekehrt: Vom Mühlwasser in der Donaustadt ins Industriegebiet, mitten rein in drei Betonklötze. Warum um Himmels willen? So richtig erklären kann sie es nicht, aber die Wohnung wäre nicht teuer, sie würde in der Nähe arbeiten und eines wäre ihnen schon wichtig gewesen: Sie wollten in einem nachhaltigen und möglichst umweltfreundlichen Haus leben. „Nachdem hier so in die Höhe gebaut wurde, wird weniger Fläche verbraucht“, sagt sie. Sie nimmt uns mit in „The One“, den ersten der drei Türme, 128 Meter hoch, 39 Stockwerke, 412 Wohnungen – 222 davon frei finanziertes Eigentum.

300 Meter Luftlinie ist „The Marks“ von der Arena entfernt. Wer schon mal in der Arena war, weiß, dass spätestens mit April die Open-Air-Saison startet, und es dauerte nicht lange, bis die ersten Anrainer:innenbeschwerden öffentlich wurden. Die Konzerte seien zu laut, nicht nur draußen, sondern auch drinnen, hieß es. „Streit mit Anrainern“, titelte die Gratis-Tageszeitung „Heute“. „Zu laut? Anrainer machen gegen die Arena Wien mobil“, schrieb der „Falter“. Die Beschwerden landeten nicht mal bei den zuständigen Hausverwaltungen der Tower, sondern direkt bei der Stadt Wien. Wie viele Anrainer:innen es genau waren, erfuhr man nie.

300 Meter Luftlinie ist die Wiener Arena von den Wohntürmen "The Marks" entfernt. Es dauerte nicht lange, bis sich die neuen Nachbar:innen über zu laute Konzerte beschwerte.

Das „The One“ ist eigentlich ein musikalisches Haus, zumindest in Sachen Design. Jeweils zwei Stockwerke habe­n als Zeichen ein Musikinstrument, das ist lustig, soll aber offen­sichtlich nicht auf gute Nachbarschaft mit der Konzertlocation machen, sondern Menschen, die nicht bis 38 zählen können, helfen, sich im Haus zu orientieren. Wobei: Wer würde schon ernsthaft sagen: „Ich wohne im ersten Trompetenstock“? Oder in der Etage „Trommel zwo“? Auf „Posaun­e eins“, also im achten Stock, wohnt Katharina mit ihre­r Famili­e: 72 Quadratmeter, drei Zimmer, 800 Euro kalt. 

Aber jetzt mal geradeaus: „Die Causa Arena?“ „Kenne ich natürlich“, sagt sie unaufgeregt. Wenn sie jemandem erzählt, dass sie in „The Marks“ wohnt, wären die Arena-Beschwerden gleich das nächste Thema, auf das sie angesprochen werd­e. Sie nimmt ihre Tochter auf den Arm und geht raus auf ihre Terrasse. Schaut man von hier aus ums Eck, kann man den „Helio-Tower“ sehen, aber auch noch etwas andere­s: die Tangentenauffahrt. Man ist sogar so nah dran, dass man  die Autos einzeln zählen könnte, die hier stadtauswärts fahren. Was man dafür nicht sieht? Die Arena. Da steht der „Helio-Tower“ als Puffer dazwischen.

Katharina und ihr Mann sind Typ „Falter“-Abo, ihr Radi­o haben sie wahrscheinlich auf FM4 eingestellt, nur samstags, beim Kochen, drehen sie auf Ö1 – „Diagonal, Radi­o für Zeitgenossen“. Wäre da kein kleines Kind, man würde sie vielleicht auch in der Arena treffen. Das „Ärzte“-Konzert im Sommer wollten sich die beiden jedenfalls anhöre­n, direkt von ihrer Terrasse aus. Geklappt hat das nur nicht, weil es so windig war. Die Aufregung um die Arena verstehen beide nicht.

„The Marks“ nennt sich der gesamte Komplex, die einzelnen Türme haben aber eigene Namen und auch eigene Adressen. Es gibt den „Helio-Tower“ in der Döblerhofstraße, „The One – Home above“ in der Modecenterstraße und den „Q-Tower“ – den „Goldenen Turm“ – in der Leopold-Böhm-Straße. Verbunden werden sie durch eine Art „Sockel“ im dritten Stock. Der Boden dieses „Sockels“ ist mit einer Tartanbahn ausgelegt, damit er als quartierseigene, 400 Meter lange Laufstrecke genutzt werden kann. Seit Herbst sind jetzt auch die letzten Wohnungen bezugsfertig. Wie groß das alles ist, kann man sich nur vorstellen, wenn man sich die Zahlen dazu ansieht: Insgesamt gibt es 1.200 Wohneinheiten, sie sind zwischen 40 und 150 Quadratmeter groß. Es gibt Eigentumswohnungen, Studierenden-WGs, es gibt Rooms 4 Rent, also auch Wohnungen für kürzere Aufenthalte. In den unteren Stöcken befinden sich vor allem Miet-, in den oberen die Eigentumswohnungen. Dazu kommen 2.000 Fahrradabstellplätze und 550 Garagenstellplätze. Eine kleine Stadt in der Stadt also, ein bisschen wie die Wohnbauten Alterlaa, nur in modern, wenn man so will, dafür mit viel weniger Charme. Es gibt wie überall in den modernen Wohnanlagen auch ein eigenes Car-Sharing-­Konzept, laut einer Bewohnerin besteht das kurioserweise nur aus einem Auto. Wer hier wohnt, fährt also mit dem eigenen Auto auf die Südosttangente auf. Und wettert dann gegen die Arena.

„Helio-Tower“, Foyer: Der lockere Nico

Der Eingang zum „Helio-Tower“ ist wie ein Tor zu einer anderen Welt. Weniger Wohnhaus, mehr amerikanischer Bürokomplex, nur dass die Menschen hier keine dunklen Maßanzüge tragen, sondern Crocs und Basecaps. Man hört Russisch, Ungarisch, Deutsch, Asiatisch, Englisch, hier ist man international und anonym, man grüßt sich also eher nicht, auch nicht die überdurchschnittlich vielen Väter, die Kinderwagen nach draußen schieben. Der „Helio-Tower“ – um die Größenverhältnisse zu benennen – hat 34 Geschoße, 228 Eigentumswohnungen und 173 Mietwohnungen. 

So fancy das Foyer, so ernüchternd ist das Stiegenhaus. Die Gänge sind schmal, die Türen grau. Im Gemeinschaftsraum stapeln sich weiße Sessel übereinander, es riecht nach Pizza, im Kühlschrank liegt eine leere Flasche Wodka, auf der Ablage ein Kalender. Am 15. Oktober feierte hier Top 37 von 12-22 Uhr „Birthday“, Top 114 hat die Geburtstagsparty am Abend davor gecancelt und was Top 259 am 21. September von 19-20 Uhr hier eine Stunde lang gemacht hat, wird ein Geheimnis bleiben.

Im Foyer treffen wir Nico, einen vertrauenswürdigen Kärntner, der gleich den Eindruck macht: Wenn man was braucht, ist man bei Nico richtig, egal, worum es geht. Er ist eigentlich nur schnell runtergekommen, um sein Postkasterl zu leeren, eines der 400, und wie auf fast allen klebt auch auf seinem ein Aufkleber mit „Bitte keine Werbung“. Die Arena? Auch er werde das seit ein paar Wochen oft gefragt, und es stimmt schon, der „Helio-Tower“ ist näher dran als „The One“, aber nein, er hört nichts und sehen tut er sowieso nichts, weil er auch nicht direkt draufschaut. „Warum regen sich alle so auf?“, fragt er. Die Konzerte seien ja nicht täglich. Und: „Die Arena war schon vor den Türmen da.“

Für die Arena wurde die Lage nach den ersten Beschwerden rasch eng. Die Stadt Wien genehmigte keine Partys und Konzerte mehr, die nach zwei Uhr früh endeten; beunruhigte Festival- und Konzertveranstalter verlegten ihre Events in andere Locations oder sagten sie überhaupt ab. Manche Medien sahen die Arena schon vor dem Aus, provisorisch wurden in den Innenhallen Lücken bei den Fenstern mit Silikon gefüllt, um den Schall nach außen zu dämpfen, aber das half alles nichts. 

Am 29. August scherzte sogar die Punk-Band „Die Ärzt­e“ bei ihrem Auftritt über die neuen Nachbar:innen: „Die Häuse­r stande­n beim letzten Mal nicht da. Die Leute haben schon beim Soundcheck die Bullen geholt – endlich mal wieder!“

Die ahnungslose Anna aus dem „Q-Tower“

Anna hat keinen blassen Schimmer, was die Arena ist und das ist kein Witz, sie hat weder die Konzerte mitbekommen noch die Diskussionen darüber. Sie wohnt im „Q-Tower“, in einem einfachen „Room 4 Rent“. Der Vollständigkeit halber: Der „Q-Tower“ ist 114 Meter hoch, hat 34 Stockwerke, 206 Eigentumswohnungen und 169 Mietwohnungen. Zu Annas Ehrenrettung muss man sagen, dass sie nicht aus Wien kommt, sie wohnte bis vor kurzem in Lemberg in der Ukraine und weil sie dort nicht mehr als Architektin arbeiten konnte, kam sie nach Österreich und schließlich in diesen Turm. Alles reiner Zufall. Hauptsache, die Miete ist leistbar.

Auf dem „Sockel“ im dritten Stock: Alexander ist der Neue hier

Alexander steht vor dem „Q-Tower“, seinem neuen Zuhause, hält seinen Schlüssel in der Hand und erinnert sich daran, dass er genau an dem Tag, an dem das Ganze mit der Arena so richtig laut wurde, den Kaufvertrag für seine Wohnung unterschreiben durfte. Gemeinsam mit seiner Frau und seinen beiden Kindern wohnt er auf 75 Quadratmetern, 5.000 Euro hat einer gekostet. „Wenn man zwei Kinder hat, dann schaut man vor allem auf die Infrastruktur“, sagt er. Und hier würde es alles geben, was man braucht: Apotheken, Supermärkte, Kindergärten im Haus. Mit zwei Kindern würde man eben darauf achten, dass die Wege kurz bleiben. Die Party um die Ecke? Die ist egal geworden. Hat er Sorge, dass ihn die Arena stören wird? „Ich verstehe, dass es jemanden mit Kindern ärgert. Aber wir schauen auf die andere Seite hinaus (Richtung Hof, Anm.), die, die drüben und im unteren Bereich die Mietwohnungen haben, haben wahrscheinlich einfach Pech.“

Rund 300.000 Menschen besuchen die Arena jedes Jahr, nicht nur für Konzerte, sondern auch für Partys. 3.000 Menschen sind bei Open-Air-Konzerten zugelassen, 1.000 in der großen Halle. Nachvollziehbar, dass es für lärmempfindliche Menschen nicht ganz so ideal ist, da zum Nachbarn zu werden. Andererseits: Die Geschichte der Arena ist auch ein Stück Geschichte der Stadt. Neben dem Amerlinghaus ist die Arena die zweite erfolgreiche bekannte Hausbesetzung der Stadt. Am 27. Juni 1976, also zu einer Zeit, in der es in Wien nicht viel mehr gab als ein paar Kaffeehäuser und sehr viele Autos, besetzten Aktivist:innen, wie man sie heute wohl nennen würde, den ehemaligen Auslandsschlachthof im dritten Bezirk – die Wiene-r Festwochen hatten ihn davor als dezentrale, subkulturelle Spielstätte benutzt. Das Gebäude sollte eigentlich abgerissen werden und an die damals sehr bekannte Modekette „Schöps“ gehen. Unterstützt wurden die Besetz:erinnen von allen, die zu dieser Zeit groß waren in der Kultur-Branche, auch ein Großteil der Wiener:innen solidarisierte sich mit der Arena. Es heißt, fast 200.000 Menschen hätten das Areal während der dreimonatige­n Besetzung besucht. Das Ende der Besetzung war ein Kompromiss. Der Auslandsschlachthof wurde zwar tatsächlich abgerissen, dafür bekamen die Besetzer:innen den Inlandsschlachthof gleich daneben. Als „Arena“ ist er heute noch einer der wichtigsten Kultur- und Veranstaltungsorte der Stadt. 

„Helio-Tower“,  25. Stock: Zurück bei Nico

Nico steht auf seinem Balkon und schiebt die Fenster zur Seite. Wir sind im 25. Stock. Vorraum, Toilette, Bad, Wohnküche, Schlafzimmer: 55 Quadratmeter für knapp über 200.000 Euro. Die Einrichtung ist in erster Linie weiß, von Deko hält er anscheinend nicht viel, das Einzige, was die Wohnung schmückt, sind drei Pokale einer Oldtimer-Rallye. Auf der Küchenzeile liegt eine Jacke vom Roten Kreuz – vielleicht deshalb das Gefühl, Nico hilft einem, wenn man etwas braucht? Der Ausblick von seiner Terrasse reicht über die ganze Stadt, nur die Arena sieht man nicht, sie versteckt sich hinter dem „Q-Tower“. Nico wohnt hier, weil er es nicht weit zur Arbeit hat, sagt er, und weil die Wohnung seiner Ansicht nach günstig war. „Irgendwie“, sagt er mit diesem weichen Kärntner „d“, hätte er die Arena daneben schon am Schirm gehabt, aber dann nicht länger darüber nachgedacht. Von unten hört man Straßenlärm und das Klacken einer Ampel. Es ist das Geräusch, an dem sich sehbehinderte Menschen orientieren, um zu wissen, ob es Grün oder Rot ist. „Dieses Klopfen finde ich viel störender“, sagt er. 

Ein paar Stunden später wird Nico noch eine WhatsApp schicken – samt Video als Beleg. Die Arena ist an diesem Abend ausverkauft, die deutschen Mundart-Rapper „Dicht & Ergreifend“ spielen in der großen Halle. „Hätte ich nicht gelesen, dass heute ein Konzert ist, wüsste ich es nicht. Ich höre wirklich nichts“, kommentiert Nico sein eigenes Video. Man versteht ihn schwer, der Wind pfeift wie verrückt, der Verkehr rauscht. Musik hört man keine – aber was man tatsächlich hört: Das Klacken der Ampel.

„Helio-Tower“, Erdgeschoß: Im Shop von Liu Feng

Das, was in vielen Gemeindebauten das Beisl ums Eck ist, ist für die Bewohner:innen von „The Marks“ der Shop von Liu Feng. Zwischen einer riesigen Menge an Jacken, Shirts, Westen und Kleidern hat er eine Bar eingerichtet, ein kleiner Tisch, ein paar Stühle, ein Stammtisch also. Es gibt Champagner, Prosecco und Jim Beam, in der Ecke steht eine halb ausgetrunkene Weißweinflasche vom „Polz“. Wenn man so will, dann ist Liu Feng so was wie der Hausmeister hier, nur ohne die Aufgaben eines Hausmeisters, die haben Reinigungsfirmen übernommen und die Portiere. Aber – und das ist für eine Wohnhausanlage essenziell – die Menschen kommen zu Liu, um zu tratschen. Zwischen 17 und 18 Uhr schneien meistens die Ersten rein. „Und dann kann es auch schon mal länger werden“, sagt er und man merkt, heute wäre ein Tag, an dem es wieder passen könnte. Liu ist aber nicht nur der Shop--Inhaber, Liu ist auch ein ziemlicher Big Player in dieser Anlage. Ihm gehören zehn Wohnungen im „Helio-Tower“, alle sind vermietet – an Ukrainer:innen, Serbi:nnen, Koreaner:innen, Mongol:innen, Türk:innen. Außerdem gehört ihm die gesamte Gewerbefläche von „The Marks“. Das heißt, er bestimmt, welche Geschäfte sich im Erdgeschoß einmieten dürfen – und welche nicht. Deshalb hat er Zugang zu allen Räumen in allen Türmen, und weil ihm alles so gut gefällt, führt er auch gerne herum. Liu Feng geht entschlossen durch die Gänge, sperrt eine Türe nach der anderen auf, zeigt Fitness­räume, Saunen, Pools und fährt am Ende bis ganz hinauf – in den 39. Stock des „The One“. Hier befindet sich seine eigen­e Wohnung. 120 Quadratmeter ist sie groß, 900.000 Euro wert. „Wir sind alle klar für die Arena“, sagt Liu im Lift nach unten. „Ich kenne niemanden, der sich beschwert hat, wirklich.“

Lärm kann körperlichen Stress auslösen, da sind sich Mediziner:innen einig. Vor allem chronischer Lärm setzt Stresshormon­e frei und erhöht das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Studie­n zufolge passiert das ab einem Schallpegel von 50 bis 60 Dezibel, was gar nicht so viel ist, normale Gespräche sind ungefähr 60 Dezibel laut. Wie weit man Lärm hört oder eben nicht, das hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab – zum Beispiel von der Bodenbeschaffenheit oder meteorologischen Bedingungen. Fix ist: Lärm steigt grundsätzlich nach oben. Im Erdgeschoß wird Schall also besser abgedämpft als im 39. Stock. Der Lärmgrenzwert der Stadt liegt bei Konzerten bei rund 100 Dezibel – Autobahnlärm kommt auf 45 bis 55 Dezibel. 500 Mete­r von der Autobahn entfernt allerdings steigt der Lärmpegel wieder an, und zwar auf bis zu 70 Dezibel. Das ist so laut wie ein Mixer.


„The One“, Seiteneingang: Sonja regen die Beschwerden auf

Vor dem Ausgang von „The One“, gleich neben den Fahrradabstellplätzen, wartet Marketingleiterin Sonja, 38, gerade auf ihren Freund. Sie hat rote Haare und wache Augen – und ist eine der Mieter:innen, die schon länger hier sind. Sie wohnt im elften Stock.

Sonja ist Teil einer Telegram-Gruppe der Bewohner:innen von „The One“ und wie oft bei Chat-Gruppen bereut sie es mittlerweile ein bisschen, beigetreten zu sein. „Da sind Menschen drinnen, die beschweren sich über jeden Scheiß“, sagt sie. Sie findet es schade, dass die Bewohner:innen der Türme jetzt dastehen, als wären sie alle Kulturgegner:innen und Spießer:innen. Dann muss sie los. Eine schnelle Frage noch: Wie viele Menschen sich in der Gruppe beschwert haben? „Fast niemand. Die Zahl ist einstellig.“

„Helio-Tower“, Lift und Foyer: Die Skeptiker

Im Lift abwärts vom 25. Stock begegnen wir einem jungen Mann von Mitte 20. Er kommt eigentlich aus dem Waldviertel, ist nur auf Besuch, hat aber dafür eine klare Meinung zur Arena: „Man muss das schon auch als Politikum sehen und mal andere Fragen stellen“, sagt er, und bevor man fragen kann, was genau er meint, redet er schon weiter: „Vielleicht hat die Arena das ja sogar angezettelt, um ein neues Soundsystem zu bekommen?“

Im Foyer treffen wir noch eine junge Frau. Sie muss erst überlegen, ob sie etwas sagen will – und ein Foto? „Aber bitte nur so, dass man mich nicht erkennt.“ Sie lebt in einer geräumigen Wohnung, 32. Stock, gemeinsam mit Mann, Baby und den Schwiegereltern. Sie schaut von ihren Fenstern direkt auf die Arena. Sie kannte das Veranstaltungszentrum vorher nicht, woher auch, fragt sie. Auf Konzerte würde sie nicht gehen, dafür reiche das Geld nicht. Und der Lärm? „Der ist mühsam, wegen dem Baby“, sagt sie. Aber hat sie sich auch darüber beschwert? Sie schüttelt den Kopf.

Jemanden im Wohnblock „The Marks“ zu finden, der sich wirklich über die Arena beschwert hat, war anscheinend ein zu ambitioniertes Vorhaben. Die Vermutung des jungen Waldviertlers teilt niemand, immer wieder sagen Menschen auch, dass sie bei der Schlüsselübergabe sehr wohl auf die Aren­a aufmerksam gemacht wurden, darauf, dass es ein bisschen lauter werden könnte. In den Verträgen selbst steht dazu aber nichts. Nach fast sechs Monaten Diskussion hat man sich am 16. Oktober im Wiener Gemeinderat darauf geeinigt, dass der Arena ein neues Soundsystem zur Verfügung gestellt wird. Die Lautsprecheranlag­e „Panther“ der Firma Meyer Sound soll die Lautstärke außer­halb des Konzertareals um die Hälfte reduziere­n – ohne dass Besucher:innen drinnen Abstriche machen müssen. Die städtische Förderung dafür beträgt 595.000 Euro. Für die Arena ist das sicher nicht ganz schlecht. Und trotzdem bleibt die Frage, wie viele Menschen es wirklich waren, die sich vom Lärm so sehr gestört fühlten, dass sie sich bei der Stadt meldeten. Weil bezahlen tun das am Ende die Steuerzahler:innen. Ganz sicher wird es, was das betrifft, bald noch mal interessant: In ein paar Jahren nämlich, wenn in Neu Marx die neue Stadthalle eröffnet werden soll – und 20.000 Menschen zu Konzerten pilgern. Und zwar nicht nur im Sommer.

Erschienen im Winter 2023. Fleisch 69 – Ein Jahr vor Kickl - ist bestellbar im Abo oder als Einzelheft unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! 

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