Herbert Kickl sitzt mit dem Rücken zur Wand und spielt mit einem Red Bull, er wirkt so, als würde er es dringend brauchen, wobei nicht ganz klar ist, wofür – er trinkt nämlich nicht, sondern drückt auf der Dose herum wie auf einem Anti-Stressball. Kärnten, Kappel am Krappfeld, ein monströs umgebauter Bauernhof, in dem jetzt da, wo früher die Kühe standen, knapp 300 FPÖ-Sympathisant:innen sitzen. Es ist Anfang November, am Podium steht Michael Schnedlitz, der FPÖ-Generalsekretär, und versucht, den Veranstaltungsstall auf Bierzelt-Betriebstemperatur zu bringen, was nicht besonders schwierig ist: Kärntner:innen sind traditionell spaßbereit, vor allem die, die FPÖ wählen, man weiß das spätestens seit den Jörg-Haider-Jahren, gerichtliche Aufarbeitung inklusive.
Schnedlitz haut nichtsdestotrotz einen Schenkelklopfer nach dem anderen raus, und alle im Saal gehen mit. Alle bis auf Herbert Kickl. Der sitzt zwar in der ersten Reihe und hat den ganzen Saal im Blick, aber er reagiert nicht. Kickl klatscht nicht, Kickl lacht nicht, Klickl wirkt so, als würde er gar nicht zuhören, als wäre er gar nicht hier. Schon klar, es ist die sechste Station des sogenannten „FPÖ-Heimatherbstes“, die Pointe auf die Frage „Was haben Ludwig, Doskozil und Babler gemeinsam?“ hat er schon ein paar Mal gehört („Alle haben mehr als 120 Kilo“). Aber warum ist er so teilnahmslos? Jetzt nimmt er doch einen Schluck Red Bull, vielleicht steckt mehr Heinz-Christian Strache in Herbert Kickl drin, als wir bisher ahnten.
In knapp einem Jahr könnte Herbert Kickl Kanzler sein. Das ist zwar eine irre Vorstellung, einerseits, andererseits ist sie nicht mehr ganz so aus der Welt wie noch vor ein paar Jahren. Die FPÖ liegt seit Monaten in allen Umfragen auf Platz eins, der Abstand zu den anderen Parteien wird tendenziell größer und nicht kleiner, und mit den Themen, um die es in den nächsten Monaten gehen wird (Inflation, Zukunftsängste, Migration, schon wieder, der Krieg in der Ukraine und auch die generelle Polarisierung im Land), kann eine rechtspopulistische Partei in der Regel auch mehr anfangen als eine Sowohl als-auch-Partei, wie zum Beispiel die Grünen. Dabei hat Kickl den ganzen Sommer über eigentlich nichts gemacht. Er hat wenig Interviews gegeben, keine Themen gesetzt, er war so was wie der große Abwesende dieses politischen Theaters. Dass er trotzdem so nach oben schwimmt, mag an der Schwäche der anderen Parteien liegen – oder schlicht und einfach daran, dass da vielleicht grad etwas in Bewegung ist.
Und das ist auch hier so, in Kappel. Die Veranstaltung ist ziemlich voll, wohl voller als gedacht. Draußen regnet es in Strömen, die Bierstände und der Würstchenverkauf sind deswegen in den Veranstaltungsstall übersiedelt, auch die Blasmusik trötet sich jetzt indoor durch ihr Zeltfestrepertoire, das macht es in den schallgedämpften Ecken noch voller und enger. Überraschend ist, dass sehr wenig Trachten und Kärntner Anzüge zu sehen sind. Stattdessen tragen die Menschen hier Jacken mit dem „Ski Austria“-Logo oder Funktionskleidung von „Engelbert Strauss“. Zwei stecken sogar in „Hardrock Café“-Hoodies, allerdings in Hoodies vom „Hardrock Café Innsbruck“, sehr weit sind die beiden wohl nicht aus Kärnten hinausgekommen.
Wer ist dieser Herbert Kickl? Das ist eine schwierige Frage, seit gut 20 Jahren haben sich immer wieder Journalist:innen an einer Antwort versucht, und fast alle sind mehr oder weniger krachend daran gescheitert. Das ist zwar sonderbar, weil er von allen amtierenden Parteichefs deutlich am längsten in der Öffentlichkeit steht: Aber Kickl ist schwer zu fassen. Man kennt ihn als Redenschreiber und Einflüsterer von gleich drei FPÖ-Parteichefs (Jörg Haider, Heinz-Christian Strache, Norbert Hofer), er war Innenminister und ist schon seit einiger Zeit FPÖ-Klubobmann, doch viel mehr, als dass er ein etwas eigenbrötlerischer Kontrollfreak ist, mit Eva Glawischnig in der Schule war, Philosophie studiert und ein seltsames Faible für Pferde hat, weiß man nicht. Es gibt keine Fotos seiner Familie, von seinem Sohn kennt man nicht mal den Namen, so einen Sperrriegel hat noch nie ein Politiker um sein Privatleben gezogen. Vor allem dann nicht, wenn er Kanzler werden will.
Seit September überzieht die FPÖ das Land mit Dutzenden Veranstaltungen, Kickl tritt in jedem Bundesland mindestens einmal auf, eine Generalprobe für das, was in einem Jahr passieren wird. Für Kickl selbst ist es vor allem ein Belastungstest. An manchen Wochenenden hat er drei Großveranstaltungen in zwei Tagen auf dem Programm, das ist eine Intensität wie sonst nur in der Schlussphase eines Wahlkampfs. Als Spitzenkandidat musste Kickl noch nie durch so eine Tretmühle, und offenbar will er, Achtung, Kontrollfreak, wissen, ob und wie er so etwas durchhält.
Wenn man ihn dabei begleitet, dann gibt es ein paar Überraschungen. Dass die Veranstaltungen kaum gebrandet sind, zum Beispiel, man nirgendwo FPÖ-Fahnen sieht und auch so gut wie keine Kickl-Shirts, Kickl-Kappen oder andere Devotionalien. Oder dass das Publikum so ganz verschieden ist. Der „Heimatherbst“ in Oberösterreich sieht aus wie eine Veranstaltung der Landjugend, zu der sich ein paar Pensionist:innen verirrt haben und einige ältere Herren, die in ihren Studententagen nicht die allerbesten Fechter waren, wie ihre Gesichtsnarben verraten. In Kärnten wiederum ähnelt das Publikum dem einer durchschnittlichen Faschingssitzung. Und in Wien sind vor allem Menschen dabei, denen man anmerkt, dass sie nicht viel Glück im Leben haben.
Die größte Überraschung aber ist Kickl selbst. Der Mann, der über Jahrzehnte die Reden und Gags der FPÖ-Parteichefs geschrieben hat, ist selbst kein guter Redner. Er hat zwar einige Pointen („Nehammer glaubt, die englische Übersetzung von Bundeskanzler ist Burger King“, „Bei Sebastian Kurz waren bei der Premiere seines Kinofilms weniger Leute als bei seiner Premiere im Gerichtssaal“), und man merkt ihm an, wie sehr er sich freut, die Witze jetzt endlich selbst machen zu dürfen. Aber er nimmt die Zuhörer:innen nicht mit. Kickl redet viel zu lang, mehr als eine Stunde, doch nach 20 Minuten haben viele das Handy bereits in der Hand und das nicht, weil sie Erinnerungsfotos schießen wollen.
Außerdem kann er wirklich schwer verstecken, wie sehr ihm die meisten Landeschefs seiner Partei auf den Keks gehen. Kickl redet fast immer nur mit den Mitarbeitern, die ihn aus Wien begleitet haben, mit seinem Sprecher und mit Generalsekretär Michael Schnedlitz. Besonders fällt das in Oberösterreich auf. Neben Manfred Haimbuchner zu sitzen, bereitet ihm fast körperliche Schmerzen, das ist quer durch den Saal zu bemerken. Zu Kickls Verteidigung muss man sagen: Haimbuchner hatte die Veranstaltung mit einer völlig wirren Rede eröffnet, und spätestens nach 20 Minuten sah man Kickl an, dass er den Hausherrn am liebsten von der Bühne gezerrt hätte, damit der nicht noch mehr Menschen aus dem Saal hinaus reden kann.
Herbert Kickl war eigentlich immer Opposition,
Opposition gegen die Regierung, klar, Opposition gegen den linken Mainstream, aber auch Opposition gegen die Eliten der eigenen Partei. Mit der Wiener Landespartei war er lang über Kreuz, weil er Dominik Nepp als viel zu eng mit Heinz-Christian Strache und dessen Party-Truppe verbandelt sah, die Oberösterreicher rund um Manfred Haimbuchner hält er sowieso nicht aus. Erstens hat Haimbuchner vielleicht ein bisschen zu oft Journalist:innen inoffiziell gesteckt, dass er sich für den viel besseren Kanzlerkandidaten halten würde. Und dann kann Kickl mit der Burschenschafts-Herrlichkeit wenig anfangen, die traditionell die oberösterreichische FPÖ dominiert. Politiker-Dynastien, in denen Ämter und Einfluss vom Vater an den Sohn weitergegeben werden, sind Kickl suspekt, das ist in Oberösterreich aber genauso üblich wie in seiner eigenen Kärntner Landespartei.
Gerade um diese Burschenschaften hat Kickl immer einen großen Bogen gemacht, er ist der erste FPÖ-Chef, der nie Mitglied einer Studentenverbindung war. „Das ist nicht meine Welt“, hatte er einmal in einem Interview mit der „Presse“ erklärt. Aber warum? Ein generelles Problem mit Extremismus kann er nicht haben, er war vor einigen Jahren noch Hauptredner bei einem Kongress der „Verteidiger Europas“ in Linz. Kickl ist einer der prominentesten Verteidiger der „Identitären“, dieser Krawallgruppe, die im Kern aus Burschenschaftern besteht. Als „rechte NGO“ hat er sie mal bezeichnet, und wahrscheinlich meint er das ernst.
Vielleicht ist sein Problem mit Burschenschaften also, dass er sie für eine Elite innerhalb der FPÖ hält und deswegen ablehnt. Vor dem Hintergrund ist es zwar etwas irritierend, dass sein innerster Führungskreis trotzdem ausschließlich aus Burschenschaftern besteht, aus der extremen Ecke sogar. Gut möglich, dass der dauerskeptische Außenseiter Kickl sie also ebenfalls als Außenseiter sieht.
Es ist eigentlich schon sehr überraschend, dass jemand mit so eine Psychostruktur eine Partei übernehmen kann. Aber wie kann er dann auch noch eine Wahl gewinnen, eine Mehrheit bekommen? Dafür braucht man einen Apparat und am Ende wohl etwas mehr als 30 Prozent der abgegebenen Stimmen.
24 Stunden nach dem Event in Kärnten tritt Kickl in Wien auf. Am Enkplatz, mitten in Simmering, hat die FPÖ ein Partyzelt aufgestellt, und darin geht es schon Stunden vor Kickls Auftritt ab. Es sind spezielle Gäste hier, wirklich andere Menschen als bei den Kickl-Veranstaltungen in der Provinz. Christa Zöchling hat die Besucher:innen einer ähnlichen Veranstaltung im „Profil“ mal als „die hässlichsten Menschen Wiens“ beschrieben, „ungestalte, unförmige Leiber, strohige, stumpfe Haare, ohne Schnitt, ungepflegt, Glitzer-T-Shirts, die spannen, Trainingshosen, Leggings. Pickelhaut. Schlechte Zähne, ausgeleierte Schuhe.“ Sie wurde dafür zu Recht vom Presserat verurteilt, weil man Menschen nicht so pauschal verunglimpfen kann, nach zwei Stunden am Enkplatz ahnt man aber, was Zöchling damals gesehen haben könnte.
Und wenn man Kickl hier erlebt, dann kann man gar nicht anders, als an Christoph Grissemanns nahezu perfekte Persiflage in „Willkommen Österreich“ zu denken, an den viel zu kleinen „Vokaki“, den Volkskanzler Kickl. Allein schon die absolute Konzentration und Ernsthaftigkeit, mit der Herbert Kickl in den Saal einzieht: Da gibt es kein Lachen und keine Ablenkung, Kickl kommt in einem Meer aus Fahnen, er selbst schwenkt dabei die größte und das mit einer Verbissenheit, die sonst nur Nordkoreaner schaffen oder die Fahnenträger bei der Schlusszeremonie der Vier-Schanzen-Tournee.
Die sind aber höchstens zwölf.
Kickl liebt Symbole und die großen Gesten, es gibt ihn nicht ohne Pathos, nicht ohne Schmalz. Wahrscheinlich haut er dieses charakteristische Tremolo selbst dann in seine Stimme, wenn er beim Starbucks einen Kaffee bestellt: „Und für mich einen Capp-ucc-iiiiii-no.“ Wenn Kickl redet, dann klingt er immer wie ein Pfarrer in der Christmette oder wie die Ehefrau im Laientheater, wenn sie die junge Liebhaberin im Kleiderkasten entdeckt. Kickl hat die gleiche Tonlage und die gleiche überbordende Theatralik, die jeden Zwischenton im Keim erstickt. Wenn man das mal live erlebt, fragt man sich instinktiv: Ernsthaft? Der wird unser Kanzler werden? Offenbar.
Kickl ist keiner, dem automatisch die Stimmen zufliegen. Er ist kein Jörg Haider, den die FPÖ-Sympathisanten mit lauten „Jetzt geht’s los“-Rufen empfingen, er ist kein Strache und schon gar kein Sebastian Kurz, der bei seinen Auftritten im Wahlkampf 2019, auf dem Höhepunkt seiner Popularität, vielleicht 15 Minuten reden musste und dann mehr als eine Stunde Selfies machte und Autogramme gab.
Aber Kickl will das auch gar nicht sein oder zumindest legt er es nicht darauf an. Er versucht, sich nicht zu überhöhen, und arbeitet, anders als Kurz, gar nicht an einem Popstar-Image. Wenn Kickl vor seine Wähler:innen tritt, dann ist er weder gut gestylt noch teuer angezogen. Er trägt keine Slim-Fit-Anzüge, sondern Jeans und ein etwas zu großes Sakko, er sieht in der Montur aus wie ein Buchhalter und das unterstreicht er noch mit seiner Durchschnittsbrille und seiner Durchschnittsfrisur. Kickl erzählt keine Aufsteigergeschichte (obwohl er das könnte, Anm.) und will ganz offenbar niemand sein, zu dem man aufschauen muss.
Ein blöder Witz? Naja, Kickl macht ihn schließlich auch selbst. Wie sollte man es sonst verstehen, dass Kickl, sobald er ans Podium tritt, sehr theatralisch das Rednerpult nach unten fährt und erst wenn der Auftrittsapplaus schon verklungen ist, das Mikrofon weiter nach unten richtet? „Ich bin nicht der Größte, das weiß ich“, ruft er an einer Stelle seiner Rede, „aber ich bin auch nicht der Kleinste. Der Selenskyj ist noch einen Zentimeter kleiner als ich, das hab’ ich nachgeschaut, und dem laufen sie alle nach.“ Das ist die Stelle, an der er die meisten Lacher hat. Die Defizite von sich aus ansprechen und zu seinem Vorteil machen, heißt das in der Psychologie. Und wahrscheinlich spielt die Regie auch deswegen immer dann, wenn Kickl die Bühne betritt, das vielleicht markanteste Gitarrenintro der Rock-Geschichte ein: Guns n’ Roses – Sweet Child o’ Mine.
Und je öfter man ihn sieht, desto mehr erkennt man: Diese Durchschnittlichkeit soll ihn erst durch den Wahlkampf und dann ins Kanzleramt tragen.
Wo auch Kickl in diesen Tagen auftritt, er spricht dabei sehr viel über Normalität. Karl Nehammer hat die Diskussion im Herbst begonnen und wenig überraschend lässt sich Kickl diese Vorlage nicht entgehen. In seiner Erzählung ist der ÖVP-Kanzler jemand, der sich „weniger um die Bürger als um die Burger kümmert“ (ein Scherz, der in Kärnten und Oberösterreich gut funktioniert, in Wien bleiben die Lacher aus, Burger dürften in Simmering ein Synonym für Alltagsessen sein, Anm.). Dann haut er ein paar Kalauer übers Gendern raus, über Wokeness und natürlich über Drag-Queen-Lesungen in Wien und bleibt dann dabei hängen, was alles nicht mehr normal ist in diesem Land. Das verfängt bei jeder Veranstaltung. Wer heute zur FPÖ geht, der will offenbar hören, dass er einen gesunden Menschenverstand und das richtige Wertesystem hat und immer die richtigen Entscheidungen trifft. Er will hören, dass er normal ist. Ganz normal. „Wir sind die Mitte der Bevölkerung, wir sind die Partei der Normalität, des Hausverstands“, ruft Kickl zum Schluss. „Nehmt das mit von heute.“
Kickl holt seine Bierzelte dort ab, wo er sie besonders leicht kriegen kann. Dazu gehört auch ein gehöriges Maß an Anti-Eliten-Polemik. Die da oben sind traditionell die Feinde
der normalen, kleinen Leute, das ist Standard-Repertoire jedes rechte Populisten, nicht erst seit Donald Trump. Bei Kickl wirkt das aber glaubhafter als bei vielen anderen Politikern seines Zuschnitts. Kickl war einfach immer schon Opposition, gegen alles und jeden, eben auch gegen die Eliten in seiner eigenen Partei, und dann war Kickl in den vergangenen Jahren bei so ziemlich jeder Verschwörungstheorie mit vorne dabei. Das Pferdemedikament während Corona? Dass ihn die Eliten dafür ausgelacht haben, macht ihn für Menschen, die COVID für eine überbewertete Lungenentzündung von Hysterikern halten, nur noch glaubwürdiger. Insgesamt haben Corona und die massive Spaltung unserer Gesellschaft Kickl einen enormen Boost gegeben, sagen Politolog:innen und Meinungsforscher:innen. Bei seiner Tour spricht er die Lockdowns deswegen konsequenterweise immer wieder an als die Zeit, „in der sie uns eingesperrt haben“.
Und dann thematisiert Kickl auch noch die Abstiegsangst, die sehr viele heute spüren. Immer wieder beginnt er mit der Teuerung und damit, dass man sich Wohnen nicht mehr leisten kann. Er klingt da durchaus ähnlich wie Andreas Babler, der Unterschied ist, dass er das Thema Wohnen über „Eigentum“ definiert, das man sich nicht mehr leisten kann. Dabei wäre Wohnen und ein bisschen Wohlstand das zentrale Element von Freiheit, sagt Kickl und in Kärnten und Oberösterreich klatschen da alle: „Wohlstand, nicht Reichtum, aber nicht einmal das ist heute mehr möglich.“
Und in diesen Momenten wird klar, warum ein Kickl-Wahlkampf funktionieren kann. Kickl versteht es, den Leuten das Gefühl zu geben, dass er nicht nur selbst ein ganz normaler, durchschnittlicher Österreicher ist, sondern vor allem auch die Sorgen der durchschnittlichen Österreicher versteht, der normalen, einfachen Leute, wie sie sich wohl selbst bezeichnen würden. Es ist zwar sonderbar, dass gerade einmal vier Jahre nach Bekanntwerden des Ibiza-Skandals und den vielen Korruptionsermittlungen gegen Heinz-Christian Strache und Johann Gudenus die FPÖ wieder das Image einer Sauber-Partei hat, aber offensichtlich ist das so. Kickl hat sich bei den Wähler:innen davon emanzipiert, und die Menschen glauben ihm nun wieder, dass er nicht in Ehrfurcht erstarrt, wenn ihm ein Scheich oder ein Großindustrieller gegenübersteht, so wie das bei Sebastian Kurz war, oder dass er sich von einer Oligarchin oder einer Sporttasche voll Bargeld beeindrucken lässt, so wie das Heinz-Christian Strache getan hat.
„Er ist einer von uns, einer, der für uns arbeiten will, und wenn ihr wollt, dann wird er in einem Jahr unser Volkskanzler sein“, wenn Kickl bei seiner Tour auf die Bühne geht, dann wird er von Michael Schnedlitz so angekündigt. Dieses „Volkskanzler“ ist der zentrale Begriff, auf den die FPÖ in diesen Wochen setzt. Jeder Redner verwendet ihn pausenlos, man hat ein bisschen das Gefühl, dass es eine interne Wette gibt, und wer das Wort nicht mindestens fünfmal verwendet, muss etwas ganz Übles machen, Eva Glawischnig küssen vielleicht.
Den Begriff hat ursprünglich die NSDAP verwendet, man muss das nicht mehr groß betonen, die österreichischen Medien haben das in den vergangenen Wochen ausführlich beschrieben. Dass der erste sogenannte „Volkskanzler“ Adolf Hitler war, muss man auch nicht mehr extra herausstreichen. Traditionell ist das der FPÖ egal, man hat fast das Gefühl, je lauter die Kritik an dem Begriff wird, desto öfter wird er verwendet.
Und auch wenn man die Nazi-Konnotation weglässt, bei dem Begriff schwingt sehr viel von dem mit, was die FPÖ derzeit erzählen will. Kickl als Person ist nichts Besonderes, er ist ein einfacher Mann aus dem Volk, der scheinbar zufällig an die Spitze gekommen ist und sich jetzt anschickt, mit und für das Volk zu regieren. So sagt es Schnedlitz selbst, so sagt es Kickl selbst auch, in seinen Worten klingt das aber noch deutlich pathetischer: „Lasst mich euch dienen. Ich bin eure Stimme, euer Werkzeug, euer Beschützer.“ Der Mann hat wirklich etwas Missionarisches, Menschen, die anders normal als FPÖ-Wähler:innen sind, mögen das befremdlich finden, und zwar den Inhalt wie das Pathos. Aber auch das verfängt. Wenn Kickl bei seiner Tour davon redet, dass er denen, die ihn wählen, dienen will, wird es ziemlich laut im Saal – lauter als über weite Strecken seiner Rede. Offenbar ist es so, dass sich seine Wähler:innen nach den Jahren von lauten, schillernden Figuren wie Jörg Haider oder auch Heinz-Christian Strache oder auch Sebastian Kurz jetzt nach jemandem sehnen, der so wie sie eine Krankenkassenbrille trägt, der Pferde mag und eine kindliche Freude hat, wenn er Fahnen schwenken darf.
Das Spannende daran ist, dass Kickl im Grunde keine Zukunftserzählung hat. Wie er das Land nach einem Wahlsieg umbauen möchte? Das thematisiert er nicht, er sagt eigentlich nie, was er alles in Zukunft will, sondern nur, was er nicht will. Weniger Inflation, weniger Links, keine Islamisten, weniger Journalisten, keine Migration, keine Drag Queens, keine Radwege, generell keinen Klimaschutz, keine Unterstützung für die Ukraine, kein Gendern, keine Regenbogenfahnen. In der Welt des Herbert Kickl lauern überall Entwicklungen, die die Normalität bedrohen – seine Normalität. „Es verändert sich gerade zu viel auf dieser Welt“, hat Kickl mal in einem Interview gesagt, „eine Gesellschaft verträgt aber nicht so viel Veränderung.“ Und genau diese Veränderung will er aufhalten.
Das wollte Don Quijote auch. Gut, dass der nie zu einer Wahl stand.
Erschienen im Dezember 2023. Fleisch69 – Ein Jahr vor Kickl - ist bestellbar im Abo oder als Einzelheft unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!