Wenn man sich Karl Nehammer als entspannten Menschen vorstellt, dann liegt man wahrscheinlich nicht ganz falsch. Karl Nehammer ist 51, aber immer noch ziemlich fit. Er boxt, macht Sport, und dass er das ein bisschen weniger oft macht, seit er einen stressigeren Job hat, sieht man seinem Körper noch nicht an. Er ist eher ein Bier- als ein Weinfreund, was nicht heißt, dass er nicht auch Wein trinkt, er gilt als gesellig und lustig, und wenn er in der richtigen Runde sitzt, dann bestellt er auch schon einmal ein zweites Getränk. Er hat zwei Kinder, einen Gebirgsschweißhund namens Fanny und fährt als Familienauto einen grauen VW Sharan, aus dem hat er übrigens schon mal ein Interview für die „Kronen Zeitung“ gegeben. Er wohnt in Hietzing in einer nicht mehr ganz neuen Wohnhausanlage, weil man will ja ein bisschen aufsteigen, die Wohnung ist nicht übertrieben groß, aber nett. Vorzimmer, Wohnzimmer, Küche, Essecke, in der Küche steht eine SodaStream-Maschine, über dem Esstisch hängt ein gerahmtes Poster, „Der Kuss vor dem HÔtel de Ville“, eine Schwarz-Weiß-Fotografie von Robert Doisneau aus 1950, das Poster gibt es bei Amazon in der Größe 80 x 60 Zentimeter um 21 Euro, allerdings ohne Rahmen.
Nehammer ist ein Familienmensch, er ist abends eigentlich am liebsten daheim. Der Opernball ist nicht so seins, generell mag er die großen repräsentativen Auftritte nicht so gerne. Dafür hat es wohl schon lange keinen Spitzenpolitiker mehr gegeben, der seine Amtszeiten so penibel an den österreichischen Ferienkalender ausgerichtet hat wie er: Weihnachtsferien sind Pflicht, die Skiferien in der Energiewoche (in Osttirol) ebenfalls, er macht Ostern frei und ist auch über Pfingsten und/oder Fronleichnam auf Kurzurlaub. Hin und wieder gab es da schon Getuschel, politische Mitbewerber nannten ihn „Urlaubskaiser“, aber das stimmt so nicht. Nehammer ist einfach erstens wirklich Familienmensch und zweitens auch nicht anders als die meisten Mittelschicht-Österreicher – da sind die Schulferien sakrosankt, oft auch dann, wenn die Kinder schon lange nicht mehr daheim wohnen. Wäre er ein normaler Angestellter, dann würde er sein Leben auch am Urlaubsplaner der Arbeiterkammer ausrichten, der einem verrät, wie man mit dem Einsatz von möglichst wenig Urlaubstagen möglichst viel Freizeit herausbekommt (für 2023 hieß es: 29 Tage Urlaub, 75 Tage frei!). Geht aber nicht, so als Kanzler.
Schade eigentlich.
Seit 18 Monaten hat Karl Nehammer nun schon diesen Job, das ist gemessen an seinen Vorgängern eine reife Leistung. Wenn er bis September im Amt bleibt, und danach sieht es aus (weil was soll über den Sommer groß passieren, Anm.), dann ist seine Regierung die stabilste seit acht Jahren. Ab September wäre er der längstdienende Kanzler seit Werner Faymann. Dass er das schafft, hätte sich am Tag seiner Angelobung niemand gedacht, wahrscheinlich nicht mal Karl Nehammer selbst. „Er ist da einfach zufällig hineingeraten“, sagt ein Regierungskollege von ihm, „er hatte nie geplant, Kanzler zu werden, und ehrlich gesagt merkt man das auch. Er ist jetzt, vorsichtig gesagt, kein Intellektueller.“
Positiv formuliert ist mit Karl Nehammer ein neuer Typus im Kanzleramt eingezogen. Er ist kein Stratege wie Werner Faymann, kein Zauderer wie Christian Kern und er ist schon gar kein Zyniker der Macht wie Sebastian Kurz. Er ist kein Karrierist, kein Diplomatensöhnchen, er ist auch nicht durch eine launige Fügung des Schicksals aus der Burgtheaterkantine oder dem Schwarzen Kameel ins Kanzleramt übersiedelt. Im Gegenteil: So wie er lebt und wohnt und denkt, ist Nehammer der wohl durchschnittlichste Regierungschef, den Österreich seit langem hat. Mit Sicherheit aber der normalste. Und wenn Herbert Kickl derzeit mit seinem Slogan durchs Land läuft, „ein Volkskanzler sein zu wollen“, dann kann die ÖVP ganz entspannt sagen: Den haben wir schon, nur eben nicht den für das Volk, sondern den aus dem Volk.
Nehammer ist ein Typ wie du und ich: Er ist jemand, der hart arbeitet, am allerliebsten von 9 bis 5, der aber schon auch weiß, dass es ein Leben neben der Arbeit gibt und dass das im Grunde das Wichtigste ist. Jobs kommen und gehen, das Privatleben aber bleibt. Man kann ihn sich gut auf dem Rasenmäher vorstellen und dabei, wie er Anfang Oktober selbst die Winterreifen montiert, weil warum dafür Geld ausgeben? Wahrscheinlich ist er auch ein Mann, der das Auto wäscht, während die Gattin in Parndorf beim Sale shoppt, weil sie gern up to date bleiben will. Nehammer muss sich nicht verstellen, wenn er sagt, dass er im Urlaub am liebsten nach Jesolo fährt, und auch nicht, wenn er behauptet, Schnitzel wäre sein Lieblingsgericht, wobei Nehammer wohl „Schnitzi“ sagen würde. Schwieriger ist es da schon, ein paar Witzchen mit Alexander Schallenberg auszutauschen, weil man ja immer Angst haben muss, dass man die Hälfte der Anspielungen nicht versteht. Nehammer hört wahrscheinlich in der Früh nicht das Ö1-Morgenjournal, sondern Robert Kratky und die Wecker-Crew, er ist jemand, der gerne 40 Stunden die Woche arbeitet, dann aber seine Ruhe haben und das Handy am liebsten ausschalten möchte. Das ging in letzter Zeit aber schlecht, wie er nach ein paar Monaten als Kanzler in „Frühstück bei mir“ erzählt: „Meine persönlich größte Krise in diesen 200 Tagen war die Erkenntnis, dass wir multiple Krisen haben, die zu bewältigen sind. Da sagt man oft: Wow – Wahnsinn, was geht da gerade ab?“ Er ist so wie wir alle. Oder zumindest wie der nette Nachbar von gegenüber, der plötzlich Kanzler wurde.
Und genau so macht er auch Politik.
Und ganz ehrlich: Ist das schlecht?
Nach den Jahren, in denen alles nur auf Basis von Meinungsumfragen entschieden wurde, kalt, analytisch, immer einem großen Plan folgend, sitzt da offenbar jetzt jemand an der Macht, der zuallererst auf seinen Bauch hört. Nehammer wäre ein Impulspolitiker, heißt es, einer, der ein halbwegs ausgeformtes Koordinatensystem hat, was er für richtig und was er für falsch halte, dass er aber leicht beeinflussbar wäre oder, wenn man es positiv formuliert: Den man auch mal im Verlauf des Prozesses überzeugen kann. Wenn man ihn an der richtigen Stelle erwischt. „Es kann dir passieren, dass du mit ihm eine Besprechung hast, und dann geht er danach in eine Pressekonferenz und wiederholt Wort für Wort deine Argumente – aber als seine eigenen“, sagt eine Grüne-Spitzenpolitikerin. Selbst politische Gegner sagen, dass Nehammer im Grunde ein anständiger Kerl sei, einer mit einem validen moralischen Grundgerüst. Wie das dann mit seiner Migrationspolitik zusammenpasst, ist freilich eine andere Geschichte. Vielleicht hat sie mit dem österreichischen Durchschnitt zu tun.
Hin und wieder gab es Getuschel, politische Mitbewerber nannten ihn "Urlaubskaiser", aber das stimmt so nicht.
Tatsächlich zieht sich dieser Impuls-Zugang aber durch die politische Geschichte der Kanzlerschaft von Karl Nehammer, es geht dabei immer um das etwas mehr Wollen als Können, wer bitte hat das noch nicht schon bei sich selbst bemerkt, etwa beim Versuch, einen Traktor bergauf mit einem alten VW-Bus zu überholen: In der Theorie möglich, aber praktisch recht riskant. Bei Nehammer geht es dann halt um seine Reise nach Moskau, als er als einziger westeuropäischer Politiker kurz nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine Wladimir Putin traf, oder auch um seine Rede zur Lage der Nation Anfang April. Da stellte sich Nehammer mitten in der Diskussion um die hohe Inflation, die enorm steigenden Mieten und die Teuerungswelle in den Supermärkten hin und erklärte fröhlich, dass Österreich ein Autoland wäre und er sich dagegen aussprechen möchte, die Verbrenner zu verbannen. Nehammer wörtlich: „Man muss der Untergangsapokalypse der Klima-Aktivisten entgegentreten. Manchmal hat man das Gefühl, dass man sich schon dafür entschuldigen muss, dass man überhaupt auf der Welt ist.“ Abgesehen davon, dass das alles ein Vollholler ist, der mehr nach dem Onkel Karl beim Osterspaziergang der Familie klingt als nach einem Bundeskanzler, der uns mit ruhiger Hand aus der Krise steuern will: Was sollte das? Warum gerade jetzt eine Eloge auf den Verbrennungsmotor? Als Einziges, das am Höhepunkt einer existenziellen Wirtschaftskrise von einer Rede zur Lage der Nation übrig bleibt?
Vielleicht ist das ja auch alles ein gutes Zeichen. Es zeigt, dass erstens die Krise vielleicht doch noch nicht so groß ist und es zweitens Chancengleichheit gibt, zumindest für mittelalte weiße Männer, und dass vielleicht wirklich alle alles werden können, immerhin war der Mann, der diese Rede hielt, lange Kommunikationsexperte.
Nehammer hielt seine Rede übrigens am Freitagvormittag, gegen 12 war er fertig und konnte ins Wochenende abdampfen. Und das ist vielleicht das Spannendste an Karl Nehammer: Er ist der erste Kanzler, für den die Arbeit nicht das Wichtigste im Leben ist. Schön, dass es so was noch gibt.
Erschienen im Sommer 2023. Fleisch 67 – Wahrheit – ist bestellbar im Abo oder als Einzelheft unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!