Seit einiger Zeit wird jetzt also unser Leben permanent auseinandergenommen und dann im Wochenabstand mit anderen Regeln wieder neu zusammengesetzt und es sieht so aus, als hätten wir uns bereits daran gewöhnt. Alles ist anders, fokussierter, aufs Wesentliche reduziert, und vielleicht ist nicht alles falsch daran. Dieser Text zum Beispiel wird in Jogginghosen geschrieben, untertags, an einem Wochentag, und es fühlt sich nicht schlecht an, aber ehrlicherweise auch nicht mehr so besonders. Es ist einfach normal geworden. Sieht ja eh keiner. Nie.
Viel von dem, was einmal Lebensqualität war, ist verschwunden. Es gibt keine Partys mehr und keine Konzerte, kein Theater, du kannst nicht mal mehr jemanden zum Abendessen einladen, ohne dass du dich dabei fühlen musst wie Karl-Heinz Grasser oder ein anderer nicht rechtskräftig verurteilter Krimineller. Wir treffen keine Freunde mehr, fahren nicht mehr weg, es fehlt jeder Sozialkontakt. Mit wie wenig kann man auskommen und wie viel von sich selbst verträgt man? Wir sind ja nicht der KHG des Jahres, sagen wir, 2025.
Weg, alles ist weg, alles ist verschwunden. Das Stilempfinden, der gute Geschmack, die Manieren. Haben wir alles nicht mehr, brauchen wir alles nicht mehr. Wie, du siehst mein Sofa vor lauter Pizzaschachteln nicht? Selber Schachtel, dreh ich halt die Kamera ab beim Zoomen!
Es gibt Menschen, die sagen, dass das eigentlich gut ist. Die Reduktion aufs Wesentliche soll dafür sorgen, dass wir endlich bessere Menschen werden. Wir würden uns selbst besser kennenlernen (klar, ist ja niemand anderer da), wir würden lernen, was uns guttut, und was nicht (wiederhole: es is ja niemand anderer da!), wir würden endlich unsere Mitte finden (ist auch bitter notwendig, die hat sich ordentlich verschoben, das sind übrigens wirklich viele Pizzaschachteln rund ums Sofa). Und allein dass wir durch die Reduktion aufs Wesentliche einmal erfahren, was das Wesentliche ist, würde uns enorm weiterbringen. Wenn man so will, dann sind die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen nichts anderes als ein Survival Training, nur eben in der Dschungelcamp-Version, ohne RTL und aus dem eigenen Wohnzimmer.
Es stimmt ja: Wir könnten so viel lesen. Wir könnten so viel hören. Wir könnten so viele gute Filme schauen oder gute Theateraufführungen streamen (nur halt nicht vom Burgtheater, das ist so ziemlich die einzige Bühne Europas, die nix streamt, wozu auch, es könnte ja jemand zuschauen). Aber wozu, wenn es doch eh Netflix gibt und Instagram TV und das ist am Ende doch angenehmer, man kann das auch im „Herabschauenden Hund“ machen, und die Bücher laufen einem ja auch nicht weg, wohin sollten sie auch, jetzt im Lockdown? „Wir müssen nur wollen“, hieß das damals bei „Wir sind Helden“. Die hatten das zwar anders gemeint, aber es stimmt schon: Wollen reicht – wirklich tun müssen wir nichts.
Und das ist vielleicht auch das Tollste an dieser Zeit. Wenn alle nur daheim hocken und auf sich selbst konzentriert sind, dann bekommt keiner mit, was die anderen gerade nicht machen. Was im Wohnzimmer passiert ist, das bleibt ihm Wohnzimmer. Und das ist wirklich nicht schlecht. Wenn diese Zeit, in der alles verschwindet, selbst verschwunden ist, dann verschwindet mit ihr auch alles, was wir darin getan haben.
Selbst wenn das gar nicht viel war.
Hinweis: Falls ihr irgendetwas vermisst, dann könntet ihr die App Artivive runterladen (www.artivive.com, gibt’s sowohl im Appstore als auch bei Google Play) und euch (sofern ihr das Heft habt) die vorherigen Seiten noch mal genauer anschauen.
Erschienen im Winter 2020. Fleisch 58 – Verschwinden – ist bestellbar im Abo oder als Einzelheft unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!