Lass mich los!

Fleisch 54, Winter 2019 
Text: Lisa Edelbacher
Foto: Max Kropitz                              

 

Liebe, das wissen sie, war es nie. Aber es gab eine Zeit, da hatten sie nur einander. Heute, nach 20 gemeinsamen Jahren, leben sie nur noch nebeneinander her und sind sich sicher: Es ist Zeit zu gehen, eigentlich.

 

Einmal hätten sie es fast geschafft. Er geht, sie weint. Stundenlang. Traurig war sie, ja, eine Trennung ist nichts Schönes, nie. Aber sie war auch erleichtert. So fühlt sich das also an, alleine zu sein, denkt sie, seit Jahren war sie es nicht mehr. Drei Tage vergehen, dann kommt er zurück.  

Ich bleibe noch, bis du nicht mehr weinst.

Wir müssen endlich loslassen, sagt sie. 

Ich kann nicht.

Stille, dann weint sie wieder.


Erster April 1999, ein Donnerstag. Sie begegnen sich zum ersten Mal. „Kauf dir alles, was du willst“, flüstert er ihr zu. Sie stehen in einem Papierladen, vor ihr ein Regal mit bunten Umschlägen. Sie will Klarsichthüllen besorgen für ihren Sohn, die farbigen, nur zwei, drei Stück. „Kauf dir alles, was du willst“, sagt er wieder, diesmal klingt es eher wie ein neckischer Vorschlag als eine Aufforderung. Sie ist frisch
geschieden, eine schlanke Frau, ihre 57 Jahre sieht man ihr nicht an. Kauf dir alles, was du willst. Ohne zu zögern, ohne Fragen nimmt sie alles, was sie tragen kann. Ordner, Briefpapier, Umschläge, Schachteln, sie stapelt es auf ihren Unterarmen, läuft von Regal zu Regal, lädt es an der Kassa ab und wieder zurück. Eine ganze Stunde geht das so, bis er sagt: „Du kannst wieder aufhören.“ Sie hört auf, legt 3.800 Euro, alles, was sie besitzt, auf den Tisch und strahlt. Sie sieht sich um, er ist weg. Wer war der Fremde?

Irgendwie aufregend, denkt sie.

Ich bin glücklich, sagt sie.

Du bist verrückt, sagen ihre Söhne. 

Drei Wochen später. Sie treffen sich wieder. Es ist Mai, die erste warme Nacht in diesem Jahr, er kommt mit zu ihr, sie sitzen auf dem Balkon, über ihnen der Sternenhimmel. Filmreifer Kitsch.

Wer bist du?, fragt sie.

Gott im Außendienst, sagt er, und du, du bist Jesus.

Ich Jesus?! Na klar!

Sie lachen. Er hat Humor, und ein wenig verrückt ist er, das mag sie irgendwie. Lass mich dein Liebhaber sein, sagt er dann. Sie wird rot, versucht, nicht verlegen zu wirken. Einen Liebhaber? Nein, sagt sie, aber hofft, dass er bleibt. Es tut gut, die Aufmerksamkeit, die Schmeicheleien. Es ist lange her, dass sie begehrt wurde. Sie ist 57, in dem Alter ist das eben nicht mehr so. Das Leben zog an ihr vorbei, denkt sie jetzt. Sie wurde alt. Und sie wurde einsam. 

 

Er interessiert sich für sie, für den Kleinkram in ihrem Leben, den sie immer für unbedeutend hielt. Endlich ist da jemand, der mehr sieht in ihr als die gewöhnliche Hausfrau.

 

Vor drei Jahren ging ihr Mann fremd, sie lässt sich scheiden. Sie zog zu ihrer Mutter, die stirbt an Krebs. Zur selben Zeit stellen die Ärzte auch bei ihr Krebs fest. Das war es also?, fragt sie sich damals. Ein Jahr später ist der Krebs weg. Sie fühlt sich jetzt gut, eigentlich, aber mit all den Jahren verlor ihr Leben an Kontur. Der Mann weg, die Mutter tot, die Söhne ausgezogen, und dann der Krebs, dieser verdammte Krebs. Sie isolierte sich. Nein, leicht war das alles nicht, sagt sie jetzt in dieser warmen Nacht im Mai. Zum ersten Mal erzählt sie jemandem davon. 

Er kann gut zuhören. Sie mag das, natürlich mag sie das. Das ist selten, denkt sie, zumindest hat sie in ihrem Leben noch nie so einen wie ihn getroffen, einen, der ihr wirklich zuhört. Jedenfalls ist er jetzt da. Er interessiert sich für sie, für den Kleinkram in ihrem Leben, den sie immer für unbedeutend hielt. Endlich ist da jemand, der mehr sieht in ihr als die gewöhnliche Hausfrau. In ihren Gesprächen geht es immer nur um sie, über sich selbst erzählt er nur selten. Er sei Forscher auf einer Südseeinsel gewesen, behauptet er einmal. Eine Lüge ist das, klar, wie vieles, das er so von sich gibt, sie weiß das natürlich. Aber die Wahrheit, was ist das schon, jeder hat seine eigene. Und sie beide haben bald eine gemeinsame, also eine Wahrheit. In ihrer Welt spielt es eben keine Rolle, was einmal war, in der zählt nur das Jetzt. Und in diesem Jetzt soll möglichst viel passieren, zu viel Zeit verging, in der nichts passierte. Im Jetzt fühlen sie sich lebendig und zusammen unverwundbar.

 

 

Eine Woche später. Er besucht sie wieder, auch am darauffolgenden Tag, am Tag darauf und am Tag darauf auch. Bald vergeht keine Stunde mehr, in der sie nicht zusammen sind. Es ist wie ein nicht enden wollender Rausch. Ständig sind sie unterwegs, ständig auf der Suche nach dem nächsten Erlebnis. Unbeschwerte Tage. Sie tanzen durch die Straßen, spüren wie Detektive Personen auf, deren Visitenkarten oder Post sie gefunden haben. Manchmal brüllt sie vor Lachen, ein dröhnendes Gackern, so laut, dass sich die Menschen nach ihr umdrehen. Nachts, wenn sie schläft, weckt er sie, sagt: „Los geht’s.“ Sie springt dann auf, ohne zu zögern, ohne Fragen streift sie eine Hose über, wie immer. Die Utensilien der nächtlichen Exkursion liegen schon griffbereit: Schlüssel, Taschenlampe und Reisepass, man weiß ja nie. Sie landen in Technoclubs, in Lesbenbars, auf Straßenpartys, beobachten das Nachtmilieu. Dealer, Prostituierte, Hedonisten. Sie, die die meiste Zeit ihres Lebens Mutter und Hausfrau war, fühlt sich wohl in den dunklen Technobunkern. Nie hätte sie das gedacht.

Einmal will er, dass sie sich von der Couch fallen lässt. „In den Schützengraben“, schreit er. Sie lässt sich fallen, prellt sich die Rippen. Ständig fordert er sie heraus, hat neue Einfälle, kleine inszenierte Abenteuer, die immer derselben Dramaturgie folgen: Er ist der stille Voyeur, gibt die Anweisungen. Sie ist die Ausführende, macht, was er will. Und weiß nicht, wo das eigentlich alles hinführt. 

Ein Jahr vergeht. Er redet viel, eigentlich ununterbrochen, das fällt ihr jetzt auf. Pausenlos kommentiert er das, was um ihn herum passiert: die Menschen in den Cafés, den roten Bus, der gerade um die Ecke bog, am allerliebsten aber kommentiert er das, was sie tut. Er analysiert sie, hinterfragt jede ihrer Entscheidungen, geht sie nach rechts, fragt er: Wieso nicht nach links? Es ist, als würde er sie ständig auf die Probe
stellen, als müsste sie ihre Gedanken, ihr Wesen vor ihm rechtfertigen. Er nennt es Training der Achtsamkeit, die Menschen, sagt er, geben viel zu wenig acht, sie leben nicht. Sie mag seine Aufmerksamkeit. Eigentlich. Manchmal aber wird es ihr zu viel, dieses laute, dieses impulsive Leben. Die nächtlichen Streifzüge, die Exzesse, sein andauerndes Ausloten ihrer Grenzen. Es gibt keine Atempausen mehr. Sie ist müde. Er unermüdlich.

 

Sie kämpft nicht mehr um die Beziehung, sie hält ihn nur noch aus. Sie wünscht sich ein eigenes Leben, eine Realität für sich allein. Sie möchte endlich frei sein. Eine Trennung, das weiß sie auch, geht nur dann, wenn er geht.

 

Stille, sie wünscht sich manchmal nichts mehr als Stille. Schläft sie einmal ein, dann nur aus Erschöpfung, manchmal unter Tränen, stundenlang redet er auf sie ein.

Bitte, sei einfach still, nur für einen Moment, bittet sie ihn.

Du wirst schweigen, und ich werde immer reden.

Du bist mein Soldat, sagt er, oder mein Versuchskaninchen. Seine Vorschläge klingen jetzt wie Befehle. Es ist, als möchte er sie psychisch zerlegen, sie hörig machen, um dann wieder ihren Gehorsam infrage zu stellen. Sie erzählt einer Freundin von ihm, zum ersten Mal. Er sei böse, ein Dämon, sagt die Freundin. Sie solle ihn loswerden. Aber wie nur? Mit ihm fühlt sie sich endlich lebendig, noch nie war ihr jemand so nahe. Und manchmal, das hat sie aus ihrer Ehe gelernt, muss man eben um eine Beziehung kämpfen, sich aushalten. Sie glaubt fest daran. Sie sehnt sich nach Ruhe. Aber sie weiß auch: Mit der Ruhe kommt die Einsamkeit. Davor fürchtet sie sich. Es ist, als seien sie gefangen in ihrer eigenen, ihrer beider Realität.

Kurz vor Heiligabend 2005. Sie ruft ihre Söhne an. Jahrelang hat sie nichts von ihnen gehört. Sie sprechen sich aus. Zum ersten Mal seit über fünf Jahren verbringt sie Weihnachten mit ihrer Familie. Sie feiern alle zusammen. Er begleitet sie, fühlt sich aber ausgeschlossen. Sie trifft ihre Familie jetzt öfter. Sie trifft auch alte Freunde, alte Bekannte und merkt: So einsam bin ich nicht. Er wirft ihr vor, nicht genug Zeit zu haben. Blöde Sau, sagt er dann. Sie distanziert sich, wird leiser, straft ihn mit Schweigen. Sie möchte nicht mehr der Star in seinen Inszenierungen sein.

Ich bin alt geworden, sagt sie, ich habe gelebt.

Langweilig bist du geworden.

Es gibt nichts mehr, das wir zusammen erleben könnten, sagt sie. Und dann: Ich denke, es ist Zeit zu gehen.

Sie kämpft nicht mehr um die Beziehung, sie hält ihn nur noch aus. Sie wünscht sich ein eigenes Leben, eine Realität für sich allein. Sie möchte endlich frei sein. Eine Trennung, das weiß sie auch, geht nur dann, wenn er geht. Manchmal gibt es noch schöne Momente, dann schwärmen sie von ihren Abenteuern – dem Sommer, als sie barfuß durch die Straßen liefen, den Nächten in den Tanzlokalen. Für sie sind das Erinnerungen, die langsam verblassen. Für ihn ist es Sehnsucht. Es ist Zeit zu gehen, das weiß auch er. Aber wohin?

An einem kühlen Tag im Herbst, der Nebel liegt tief, beschließt sie zu schweigen. So fällt der Abschied leichter, sagt sie. Für ihn, aber auch für sie. Zehn Jahre ist das her. Seitdem hat sie ihm nicht mehr geantwortet. Und sich auf kein Abenteuer mehr eingelassen, auch wenn er das wollte. Sie hört ihn immer noch, aber sie hört ihm nicht mehr zu.


Sie, das ist Monika Mikus, heute 77 Jahre alt. Er, das ist Adonis. So stellte er sich zumindest vor, als sie sich zum zweiten Mal begegnet sind. Adonis ist kein Mensch, er ist eine Stimme in ihrem Kopf. Sie hört ihn seit 20 Jahren. Jeden Tag.

 

HINTERGRUND:

Das Hören von Stimmen, auch „akustische Halluzinationen“ genannt, tritt häufig bei einer Psychose auf – etwa 70 Prozent der Schizophrenie-Patienten sind davon betroffen. Jedoch hören auch fünf bis 15 Prozent der psychisch gesunden Menschen gelegentlich Stimmen, ein Prozent
davon sogar über viele Jahre. Studien zeigen, dass die Betroffenen generell dazu neigen, bedeutungslosen Geräuschen einen Sinn zu geben. Im Gegensatz zu Menschen ohne verbale Halluzinationen tendieren sie stärker dazu, im Rauschen des Fernsehers Gemurmel herauszuhören. Gehirnscanner zeigen außerdem, dass das Sprachzentrum der Betroffenen aktiviert ist und dass das Stimmenhören somit keine Einbildung ist. Die inneren Stimmen können dabei als Qual oder als Gabe empfunden werden. Wie sie entstehen, ist noch nicht vollständig erforscht. Nach einer Studie des Psychiaters Al Powers von der Yale University in New Haven hängen die akustischen Halluzinationen aber auch stark von den Erfahrungen und dem Wissen der Betroffenen ab. Generell gilt: Je eher die Stimmen von den Betroffenen akzeptiert werden, desto weniger angsteinflößend sind sie. Dabei können psychiatrische Behandlungen, aber auch Selbsthilfegruppen helfen.
Monika Mikus ist die Leiterin einer solchen
Selbsthilfegruppe. stimmenhoeren.info

 

Erschienen im Winter 2019. Fleisch 54, bestellbar im Abo oder als Einzelheft unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

 

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