Heyyyyyy

Fleisch 54, Winter 2019 
Text: Christoph Wagner
Foto: Marko Mestrovic                          

 

In Wien gibt es eine Straße, die wie gemacht ist für erste Verabredungen. Und weil hier so viel gedatet wird, hat sie einen passenden Namen bekommen: Tinder-Strich. Eine lange Nacht an einem Ort, an dem alles beginnt und nicht selten gleich wieder endet. 

 

Der Rosenverkäufer hat noch alle Rosen bei sich, wobei das vielleicht nicht zwingend etwas sagen muss, denn wer kauft heute noch Rosen außer Alten und Besoffenen, und wer ist jetzt schon besoffen? Es ist Viertel nach sieben, Donnerstag, und Romantik wird noch nicht in Rosen gemessen. Es ist zwar abends schnell dunkel, aber Dates, so viel ist klar, beginnen deshalb nicht früher. Die besten Plätze der Straße
sind noch frei: der Fenster-Zweier im Obergeschoß des „Ganz Wien“, die rote Couch im „Liebling“, links hinter der Ecke, und auch noch die Zweiertische mit Blick auf die Straße des „Europa“, zumindest drei davon.

Eine halbe Stunde später sieht es schon anders aus. Gleich am Anfang der Straße schleicht ein Typ mit aufgekrempelter Hose und Tennissocken wie ein lauerndes Tier zwischen dem Geschäft Orsay und dem A1 Shop hin und her und wartet offenbar, bis es nicht mehr
unangenehm zu früh ist, um zum Treffpunkt vor ein Lokal zu gehen. Weiter oben, bei der Post, steht ein anderer neben einem Seat Ibiza und wuschelt sich im Rückspiegel die Haare zurecht. Er wird dabei von einer Autofahrerin beobachtet, die hofft, dass er einsteigt und fährt und nicht erst kommt, wird aber enttäuscht. Auf ihrem Kennzeichen steht: Ich meine es ernst. Nein, steht da natürlich nicht, aber ihr schwarzer Polo mit den Scheinwerfern wie Glupschaugen hat ein WN-Kennzeichen, Wiener Neustadt, und das hat genau die gleiche Bedeutung. Wer fährt schon 60 Kilometer für ein Date, bei dem man nicht wirklich glaubt, dass etwas dabei rauskommt?

 

Sonne, Spritzer, Singlesein. Das war vor ein paar Monaten für ganz viele noch sehr okay, aber wenn es kalt wird und grauslig, dann kann es passieren, dass man einsam wird.

 

Die Zollergasse in Wien-Neubau: Lange Jahre eine der unauffälligeren Gassen, die von der Mariahilfer Straße weggingen, kurz, nur knapp vierhundert Meter lang, nach oben hin eine Einbahn, nach unten eine Sackgasse. Hübsch, siebter Bezirk, Altbaugegend mit U-Bahn um die Ecke, praktisch, aber nichts, was herausstach. Das einzige Lokal, das es hier lange Jahre gab, war das „Europa“. Da ging man hin, wenn man etwas trinken und sich dabei noch über etwas unterhalten wollte, das über die Simpsons und Zweitakt-Einspritzmotoren hinausging, aber mehr gab es im „Europa“ eigentlich nie.

Doch das hat sich geändert. Jetzt gibt es deutlich mehr Lokale, ein paar sehen gleich und ein paar ein bisschen anders aus. Mehr so Pinterest, mehr Tumblr, mehr #vintagelove und Plantfluencer. Nett, durchdacht, durchgestylt, sie sind Zeitgeist. Perfekt für ein Foto für Instagram. Aber auch für ein erstes Treffen.

In der Zollergasse gibt es mittlerweile mehr Verabredungen als parkende Autos. Und eine Redakteurin der „Kleinen Zeitung“, sie kommt ursprünglich aus Kärnten, schrieb einen Text mit dem Titel „Wien und sein Tinder-Strich“. Manchmal braucht es jemanden von außen, um die Dinge so zu benennen, wie sie sind.

Es ist nicht so einfach, lässig in einem tiefen Polstersessel zu sitzen, und obwohl das „Ganz Wien“ mit seinem rosaroten Licht, den Tischen, den Kerzen und dem Grünzeug auf dem Fensterbrett so aussieht, als hätte sich jemand ganz genau überlegt, wie man hier den bestmöglichen Eindruck macht, scheitert ein Typ seit zehn Minuten daran, sich ordentlich hinzusetzen. Er ist ein bisschen zu früh und kann sich deshalb noch akklimatisieren, und die Frau, die er gleich trifft, wird sowieso nie erfahren, was er veranstaltet hat, bevor sie zum ersten Mal Hallo sagen.

Sonne, Spritzer, Singlesein. Das war vor ein paar Monaten für ganz viele noch sehr okay, aber wenn es kalt wird und grauslig, dann kann es passieren, dass man einsam wird. Im „Liebling“, gleich gegenüber, will ein Mädchen mit grauem Wollsweater mit Kräutertee gegen die Einsamkeit ankämpfen und hat bekommen, was da am besten passt: ein schönes Stück Literatur. Sie und ihr Date haben die rote Super-Couch erwischt, da sollen schon Leute übereinander hergefallen sein, aber was bringt die beste Sitzgelegenheit, wenn man wünschte, sie wäre ein bisschen größer? Er hat ein Buch mitgebracht, vifer Kerl, weil wenn die Themen ausgehen, hat er so noch eine Kräuterteelänge Zeit, alles zu geben. Tolle Dialoge, sagt er, aber echt, musst du mal reinschauen. Sie trinkt, sagt, ah, der muss noch ziehen. Am Nebentisch küsst der Kerl mit Schieberkappe eine Kurzhaarige.

 

Das ist der erste Teil der Geschichte "Heyyyyy". Erschienen im Winter 2019. Fleisch 54 – Paarungen – ist bestellbar im Abo oder als Einzelheft unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! 

 

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