Kakao trinken mit Schneewittchen
„Nimm zwei. Nimm zwei. Zwei Gründe, sich zu freuen“, sang der Mann aus der Zuckerl-Werbung, es waren die 90er und wer in den 90ern aufwuchs, kannte dieses Lied. Er hat die Melodie noch im Ohr, hat die zwei Kinder vor sich, die gemeinsam die Welt entdecken, auf dem Fahrrad, vor dem Spiegel, auf dem Baum. Bruder und Schwester, durch dick und dünn, bei Regen und bei Sonnenschein.
Mag sein, dass es bei anderen „Nimm zwei“ hieß. Bei uns hieß es: „Nimm eins. Und teile es.“ Mit der Schwester. Ein Twinni – für zwei. Ein Twix – für zwei. Eine Packung Kaugummi – für zwei. Allein deshalb schon nervte die große Schwester mit ihrer permanenten Anwesenheit. Gerade mal eineinhalb Jahre älter und bald auch kleiner als ich, was es noch absurder machte, dass sie die „große“ Schwester war, immer und überall dabei, durch nichts zu ändern.
Auch nicht durch Tränen.
Zum Beispiel wegen Jason. Wir fanden ihn beide nicht sonderlich gut, aber als er eines Tages am Strand in einem der Familienurlaube, die wir in Griechenland verbrachten, meine Schwester küssen wollte und nicht mich, war ich ratlos. Warum sie? Warum nicht ich? Gut, ich war zwölf, aber immerhin hatte ich auch schon geraucht! Ich versteckte mich auf der Toilette des Campingplatzes, als die Tränen kamen. Die Reihenfolge der Gefühle lautete Selbstmitleid, Zorn, Hass.
Dabei hatte sie ihn nicht einmal zurückgeküsst.
Aber natürlich hatte sie geküsst, bevor ich küssen konnte. Sie hatte vor mir geraucht, vor mir ein Handy, vor mir einen Freund. Sie hatte aber auch ein seltsames Vorrecht darauf, als Erste die Band auszusuchen, die wir dann gemeinsam hörten. Sie durfte als Erste ihr Lieblingsbandmitglied bestimmen, mir blieb nur der Rest. Die große Schwester macht Sachen, bevor man sie selbst machen kann. Dass das wie ein Naturgesetz klingt, macht es nicht leichter. Egal, worum es ging – ich kam immer zu spät zur Party. Und konnte nicht anders, als mich mit ihr zu vergleichen und dann alles unfair zu finden.
Die Psychologie hat seit Jahrzehnten einen Narren an Geschwisterbeziehungen gefressen. Die Königsdisziplin darin ist die Zwillingsforschung, weil es ja auch besonders seltsam ist, dass es da zwei Versionen eines Menschen gibt, die dann doch erstaunlich verschieden ausfallen können, aber dennoch durch die absolute Gleichzeitigkeit des Aufwachsens ganz besonders miteinander verbunden sind. Es gibt Kinderfotos von meiner Schwester und mir, auf denen wir die gleiche Kleidung tragen. Wir wollten, dass man uns für Zwillinge hält.
Aber auch von Zwillingen abgesehen ist das Thema Geschwister ganz gut erforscht. Es gilt: Die ersten Jahre sind in einer Geschwisterbeziehung die wichtigsten. Und was soll ich sagen: Meine große Schwester war, so erzählen es die Eltern, eifersüchtig, als es plötzlich auch mich gab. Sie schlug mich bei jeder Gelegenheit. Sie biss mir sogar die Finger blau. Sie war eineinhalb, was das Ganze vielleicht in ein anderes Licht rückt, und sie ist mit einem solchen Verhalten auch nicht allein: Die Älteren verpassen den Kleineren doch ständig eine, sobald die Eltern wegschauen. Man kennt das.
Seltsame Vorrechte: Natürlich hatte sie geküsst, bevor ich küssen konnte. Sie hatte vor mir geraucht, vor mir ein Handy, vor mir einen Freund. Und sie suchte die Band aus, die wir dann hörten.
Die Geschwister wissen auch immer ganz genau, wo die wirklich wunden Punkte liegen. Als jüngere Schwester bleibt einem nur, möglichst schnell aufzuholen und sich dem Wettbewerb zu stellen. Klar tat es weh, wenn sie Dinge sagte wie: „Ich würde dich ja gerne mitnehmen auf die Geburtstagsparty, aber du bist einfach noch zu jung.“ Aber es tat weniger weh, als ich antworten konnte: „Macht nichts, ich hab mir eh schon was mit meiner Freundin ausgemacht. Ich darf dir aber leider nicht verraten, was wir vorhaben, und außerdem hab ich sie eh viel lieber als dich.“ Und dann knallten die Türen.
Manchmal ging es bei uns aber auch ganz leise zu. Wenn ich bei ihr im Zimmer war und sie meine Hand hielt, bis wir einschliefen, zum Beispiel. Oder sie mir Geschichten erzählte, die sie sich selbst ausgedacht hatte. Darin war sie besonders gut.
Sie erzählte mir zum Beispiel, dass sie sich jede Nacht durch eine Geheimtür im Bad ins Land der sieben Zwerge schlich und dort mit Schneewittchen abhing. Ich war skeptisch, aber auch beeindruckt, vor allem aber ratlos: Warum nahm sie mich nicht mit? Kakao trinken mit Schneewittchen, das mag ich doch auch! Manchmal aber überspannte sie den Bogen der Fantasy-Geschichten, dann war ich wütend. Ich weiß noch, wie ich heulend zu Mama lief, als sie mir einreden wollte, dass es das Christkind eigentlich doch gab.
Anna und ich wuchsen in der Steiermark auf, wir gingen in die gleiche Volksschule, ins gleiche Gymnasium. Wer Anna kannte, kannte auch mich, und jeder, der mich kannte, kannte auch Anna. Wir sahen einander zwar nicht sonderlich ähnlich, wir waren aber viel zusammen, hatten einander überschneidende Freundeskreise und auch ganz ähnliche Interessen. Musik zum Beispiel.
Mit ihrer Gitarre stand Anna schon bald auf der Bühne, sie sang und war Superstar in der Steiermark. Ich wollte das auch, aber ich musste mir bald eingestehen, dass eine Querflöte etwas ist, mit dem ich höchstens meine Oma beeindrucken kann. Annas großer Erfolg kam später dann in Wien. Aus ihr war Anna F. geworden, aus mir ein Teil der Band, Querflöte und Backgroundgesang, das war meine Rolle.
Das ist der erste Teil der Geschichte "Kakaotrinken mit Schneewittchen". Erschienen im Winter 2019. Fleisch 54 – Paarungen – ist bestellbar im Abo oder als Einzelheft unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!