Ich steh' nicht auf Tussis
Aus meiner Sicht ist es so: Es gibt Behinderte, die so behindert sind, dass sie gar nicht merken, was mit ihnen los ist. Und es gibt Leute, die trotz ihrer Behinderung ziemlich normal sind, was aber außer ihnen selbst keiner merkt. Zu diesen Leuten gehöre ich: Ruben, fast 14 Jahre alt, geboren mit Trisomie 21.
Ich bin ziemlich groß und sehr sportlich. Meine Ärztin ist immer ganz neidisch, wenn sie an meine durchtrainierten Oberarme fasst. Sie weiß, dass sie so etwas nie haben wird. Von weitem sehe ich aus, als wäre ich einer von Matteos Brüdern. Matteo geht in dieselbe Klasse wie ich. Er hat einen asiatischen Vater, aus Korea oder von den Philippinen, keine Ahnung. Matteo jedenfalls hat genauso dunkle Augen wie ich. Er hat auch ziemlich dunkle Haut und diesen schlurfenden Talahon-Gang, den sich alle Jungs aus der Klasse bei ihm abgeguckt haben. Aber so richtig cool sieht es nur bei ihm aus. Wenn ich gehe wie Matteo, fragen meine Eltern: „Rubi, was läufst du denn so komisch? Tut dir was weh?“
Meine Eltern haben keine Ahnung. Ich hätte sie mir nicht freiwillig ausgesucht. Nur meine kleine Schwester ist schlimmer. Kürzlich hat sie mich beobachtet, wie ich im Bad an meiner Nase rumgerubbelt habe, weil ich fürchte, dass ich bald so eine Hakennase bekomme wie mein Vater. Darauf Pina: „Sei doch froh, dass du nicht so ein plattes Downie-Gesicht hast.“ Bei ihr klingt selbst ein Kompliment wie eine Beleidigung.
Meine große Schwester ist ganz anders. Sie ist immer auf meiner Seite. Leider lebt sie gerade im Ausland, weshalb ich ihr schönes Zimmer benutzen darf. Es hat zwei große Fenster und ein Sofa, auf dem man mit seinen Freunden chillen kann. Ich schlafe dort sehr gut. Besser jedenfalls als früher, als ich jede Nacht von Pinas Gezeter aufgewacht bin.
Pina hat die Angewohnheit, alles, was am Tag eigentlich ganz okay oder nur ein bisschen blöd war, in der Nacht noch einmal als Horrorfilm zu durchleben. Nach meinem Geburtstag träumte sie angeblich, dass sie im Jump House stundenlang vor einem leeren Buffet stand, während alle anderen schon Chicken Wings in sich reinstopften – und als dann endlich Nachschub kam, bebte die Erde und zwischen ihr und dem Essen tat sich ein tiefer Spalt auf, der immer größer wurde und uns alle, also mich, unsere Eltern, Matteo, Charlotte und die anderen, nach und nach in die Tiefe riss. Und oben am Rand stand unsere große Schwester und war froh, dass sie uns los ist.
Bro, das ist nicht normal! Kein Mensch erinnert sich so genau an seine Träume. Träume setzen sich aus Bildern zusammen, die einem Angst machen, aber sie erzählen keine Geschichten. Pina erzählt Geschichten, um sich wichtigzumachen. Pina, die Königin der Zukurzgekommenen. Bei ihr vergeht kein Tag, ohne dass sie wegen irgendwas beleidigt ist.
Ein Lehrer gibt ihr keine Eins, eine Mitschülerin sagt, die Hosen, die sie von unserer großen Schwester geerbt hat, seien altmodisch, ein anderer stellt fest, dass sie nicht singen kann. Pina kann nicht singen. Aber das darf man ihr nicht sagen. Sie ist der Meinung, dass sie alles besser kann als alle anderen, auch das, was sie nicht kann. Und sie ist nur zufrieden, wenn sie mehr kriegt als alle anderen.
Einmal, als wir nach dem Abendessen noch einen Eisbecher bekommen haben, hat sie alle Schälchen auf eine Küchenwaage gestellt, um sicherzugehen, dass sie auf keinen Fall weniger hat als die anderen.
Ich wurde letztes Schuljahr dreimal suspendiert. Die Lehrer hatten das Gefühl, dass sie irgendetwas machen müssen wegen meiner Wutanfälle. Lehrer mögen einen, wenn man Opfer ist. Als Täter hassen sie dich. Bei Kindern ist es genau umgekehrt. Kinder hassen Opfer.
Ich habe Frau Dr. Melchior schon oft gefragt, warum ich ständig in ihre Praxis muss und nicht Pina. Aber die tut immer so, als habe sie mich nicht gehört und macht weiter in ihrem Programm. „Mein lieber Ruben, wie geht es dir heute?“ Ich bin kein lieber Ruben und es ist meine Privatsache, wie es mir geht. Ich hasse es, über mich zu sprechen. Ich kriege schon schlechte Laune, wenn mich abends bei Tisch alle anschauen und fragen: „Und, wie war dein Tag?“ Mein Tag war super. Meine Tage sind immer super. Was soll diese Fragerei?
Frau Dr. Melchior gibt zum Glück auf, wenn sie bei mir nicht weiterkommt. Dann darf ich was malen oder Bücher anschauen. Meine Mutter fragt einfach weiter. Habt ihr heute in der Pause wieder Fußball gespielt? Wer saß alles auf der Ersatzbank? Saßt du wieder auf der Ersatzbank?
Meine Mutter ist Journalistin. Sie ist nie da, wenn man sie braucht, und wenn sie da ist, sitzt sie am Telefon und quetscht andere Leute aus. Wäre sie bei der Polizei, wäre sie bestimmt schon verurteilt worden, weil sie Geständnisse erpresst. Rubi, ich merke doch, dass was nicht stimmt. Bist du wieder ausgeflippt? Komm, wir machen uns erst mal einen schönen Kakao.
Es gibt Tage, an denen ich ausflippe, ohne mich vorher richtig aufgeregt zu haben. Ich mache das nicht mit Absicht. Es passiert von allein. Wenn du ausflippst, ist das, als würde dich ein großes Gewitter durchrütteln. Danach ist plötzlich alles klar. Du bist der Täter und keiner macht sich die Mühe zu fragen, wer denn eigentlich angefangen hat, was ja sowieso nie so richtig eindeutig ist. Schuld ist, wer zuschlägt, nicht wer provoziert. Einmal, als meine Mutter mich wegen irgendeiner blöden Sache aus der Schule abholen musste, sagte sie zu meiner Lehrerin. „Ihnen ist aber schon klar, dass er sich nicht gut mit Worten wehren kann?“ Blöde Kuh. Ich kann mich mit Worten wehren. Es bringt nur selten was.
Also, bei Lehrern manchmal schon. Ich habe einmal zu einer Referendarin, die immer neben mir saß, um mir zu helfen, gesagt: „Dein Unterricht nervt, weil er nicht inklusiv ist.“ Danach war sie so erschüttert, dass sie meinen Eltern eine lange Mail geschrieben hat, um zu erklären, dass das nicht stimmt. Ich glaube, meine Eltern fanden das ziemlich lustig. Ich habe jedenfalls gehört, wie meine Mutter abends zu meinem Vater sagte: „Also Humor hat er, das muss man ihm lassen.“ Ja, ich habe einen guten Humor. Leider verstehen Kinder meine Witze nie. Ich erzähle sie dann noch mal, aber das macht alles nur schlimmer.
Einmal bin ich mit einem blauen Auge nach Hause gekommen. Zuerst habe ich gesagt, ich hätte es mir angemalt. Doch nachdem es beim Waschen nicht abging, fing die Fragerei wieder an. Rubi, wer war das? Mit wem hast du dich gekloppt? Ich habe mich dann so tief in irgendwelche Geschichten verstrickt, bis ich selbst nicht mehr genau wusste, was genau passiert war.
Ich will nicht von der Schule fliegen. Ich will nicht, dass einer wegen mir von der Schule fliegt. Das geht nämlich schnell. Drei Suspendierungen vom Unterricht und du kriegst eine Schulkonferenz, in der überlegt wird, ob du noch tragbar bist. Ich wurde vergangenes Schuljahr dreimal suspendiert, dreimal in einem Monat. Das erste Mal war schlimm, da hatte ich Angst, dass etwas Schreckliches mit mir passiert. Aber dann ist gar nichts passiert, die Lehrer hatten nur das Gefühl, dass sie irgendwas machen müssen, weil es so nicht weitergehen konnte mit meinen Wutanfällen. Lehrer mögen einen, wenn man Opfer ist. Als Täter hassen sie dich. Bei Kindern ist es genau umgekehrt. Kinder hassen Opfer.
Matteo ist der Härteste von uns allen, er hat einmal in der Aula die Heizung aus der Wand gerissen, alle wussten, dass er das war, aber keiner hat ihn verraten. Das muss man erst mal hinkriegen: Richtig Scheiße bauen – und alle, wirklich alle halten dicht. Kürzlich wurde er sogar zum Klassensprecher gewählt.
Das passiert aber nur Leuten, die einen „Rücken“ haben. So ein Rücken besteht aus Leuten, die bereit sind, alles für dich zu tun, einfach nur, weil sie deine Freunde sein wollen. Meine große Schwester sagt, dass Mädchen keinen Rücken brauchen, weil sie auch so genug Freunde haben.
Die große Liebe ist im Fernsehen
Manchmal denke ich, dass es schön wäre, ein Mädchen zu sein. Dann hätte ich eine beste Freundin, mit der ich den ganzen Tag über irgendwas reden würde und wenn uns langweilig ist, gehen wir ins Nagelstudio. Und hinterher machen wir Selfies mit unseren Nägeln und küssen die Luft. Ich glaube, Mädchen denken, Jungs finden das gut. Je härter die Jungs, die ihnen gefallen, desto mehr Tussi wollen sie sein.
Ich steh’ nicht auf Tussis. Meine große Liebe ist Sophie von der Tann, die Korrespondentin der ARD in Israel. Sie hat ein sehr liebes, junges Gesicht und so eine ruhige Art, Sachen zu erklären. Ich finde sie am schönsten, wenn sie mit kugelsicherer Weste und einem Helm auf einem Schlachtfeld steht. Wenn ich allein bin, stelle ich mir manchmal vor, dass ich irgendwann einmal zu ihr nach Tel Aviv ziehe und wir gemeinsam Frieden schaffen. Sophie und ich besiegen die Hamas, die Hisbollah, den Iran.
Karim aus meinem Fußballklub sagt, es gebe erst Frieden im Nahen Osten, wenn er und seine Familie in das Haus zurückkehren können, aus dem seine Großeltern einmal vertrieben wurden. Karim ist Palästinenser. Ich mag ihn nicht, weil er mich ständig foult. Ich habe nichts dagegen, dass er bald in das Haus seiner Großeltern in Israel zieht.
Gleichzeitig fürchte ich mich davor, dass dieser Krieg irgendwann vorbei ist, weil ich Sophie dann nicht mehr jeden Abend im Fernsehen sehe. Wobei, ich muss die gar nicht sehen. Es reicht mir, sie zu hören. Sie hat eine sehr angenehme, ruhige Stimme. Nur einmal, an irgendeinem Jahrestag, war sie so aufgewühlt, dass sie fast geweint hätte. Ich hätte sie so gern in den Arm genommen. Auf Frauen wie Sophie trifft man sehr selten.
Die Mädchen in meiner Schule sehen alle gleich aus, jedenfalls die älteren. Sie sind so dick geschminkt, dass man nur noch raten kann, was die für eine Hautfarbe haben. Ihre Haare kleben ganz fest am Kopf. Das sieht aus, als würden sie die nie waschen. Aber ich weiß von meiner großen Schwester, dass die die schon waschen, danach kleben sie sie wieder fest und dann kleben sie sich falsche Wimpern an. Das dauert etwa fünf Stunden, in denen kein anderer ins Bad darf.
Die Mädchen in meiner Schule machen das, um den Kupferköpfen zu gefallen. Das ist so eine Bande von rothaarigen Sitzenbleibern, von denen jeder mindestens einen Schulverweis hat. Sie haben einmal in der Pause auf der Jungs-Toilette gekifft und dann die Lüftung demoliert, weil sie so sauer waren, dass das Ding den Qualm nicht ordentlich abgezogen hat. Wenn die sich in der großen Pause hinter dem Fußballfeld im Kreis aufbauen, kommen die Mädchen angewackelt und zupfen nervös an ihren kurzen Röcken rum.
Meine Mutter findet das ganz schlimm. Sie glaubt, das kommt von TikTok. Mein Vater sagt: „So läuft das, seit es Schulhöfe gibt. Die Arschlöcher kriegen die Mädchen, die anderen kriegen auf die Fresse.“ Ich glaube, dass er als Kind auch ziemlich viel auf die Fresse gekriegt hat.
Harte kindheit, harter Fußballer
Einmal sind wir nach dem Urlaub in der Pariser Banlieue gelandet. Wir brauchten noch Verpflegung für die Rückfahrt und in der Innenstadt hatten schon alle Geschäfte geschlossen. Meine Eltern hatten aber im Internet weit außerhalb noch einen Laden gefunden, der aufhatte. Es war stockdunkel, als wir da ankamen. Mein Vater: „Vermutlich sind wir genau da, wo vor kurzem die Autos gebrannt haben.“ Meine Mutter: „Wir sind da, wo es in Paris um diese Uhrzeit noch ein Brot gibt.“ Sie ist dann gleich rein in den Laden, ich hinterher, und als wir wieder rauskamen, standen da diese beiden Typen. Tiefschwarze Haut, weiße Gucci-Klamotten, in jedem Ohr einen Brilli.
Da wurde auch meine Mutter nervös: „Die schaust du jetzt besser nicht an.“ Aber da hatte ich ihren Blick schon erwischt. Und dann, Bro, das kannst du dir nicht vorstellen, kommen diese Gangster ganz langsam auf mich zu – und einer drückt mir einen Kuss auf die Stirn. Einfach so.
Wirklich schade, dass meine Schwestern da schon geschlafen haben. Vor allem Pina „Pain in the Ass“ hätte ich diesen Anblick gegönnt. Die kriegt in Berlin schon schlechte Laune, wenn ihr auffällt, dass mich bei uns im Viertel alle grüßen und sie nicht. „Hey, Rubi, was geht?“ Prenzlauer Berg, wo wir leben, ist die Banlieue von Berlin. Hier siehst du an jeder Ecke coole junge Leute, mit weiten Hosen, offenen Turnschuhen und wiegendem Gang. Wenn du am späten Nachmittag durch den Bezirk läufst, riechst du überall Kiffe.
Ein Cousin von Francesco, wir kennen uns vom Theater, wurde einmal auf dem Spielplatz hinter unserem Haus abgezogen. Er musste mitten im Winter in Unterhosen nach Hause laufen. Meine große Schwester sagt, so etwas passiere oft. Das Verrückte sei nur, dass die Jungs, die anderen Jungs die Klamotten abziehen, hinterher nicht wissen, was sie damit machen sollen. Bei uns in der Gegend trägt man keine gebrauchten Klamotten.
Der beste Freund meiner Schwester trägt allerdings einen gebrauchten Brilli im Ohr. Den hat ihm ein Kumpel geschenkt, nachdem er den zweiten verloren hatte. Der Kumpel hat zwei Ohrlöcher und er nur eines. Sie fanden, das passt. Einmal haben die beiden mich nachmittags mit in eine Bar am Mauerpark genommen. Dort haben wir Cola getrunken und gemeinsam überlegt, wer von uns der nächste Mbappé, der nächste Messi, der nächste Cristiano wird. So viel ist ja klar: Je härter deine Kindheit, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass du im Fußball ganz groß rauskommst.
Wir gehen alle auf dieselbe Schule. Es ist eine besondere Schule. Wir haben keinen festen Lehrplan und keinen Frontalunterricht. Unsere Lehrer machen bloß „Inputs“, danach kann jeder in seinem eigenen Tempo allein weiterarbeiten. Trotzdem machen hinterher alle ein gutes Abitur. Außer den Kupferköpfen wahrscheinlich, aber das ist deren Problem.
Kürzlich war ein Filmteam in der Schule, weil wir für einen wichtigen Preis nominiert waren. Es ging um Inklusion und wie toll wir das machen. Flavia, Fine und ich waren die ganze Zeit im Bild. Flavia ist fast so schwarz wie die Gangster aus Paris, Fine hat auch das Down-Syndrom. Früher hatten wir zusammen Matheförderung, aber das ging dann nicht mehr, weil Fine immer so schnell aggro wird. Im Film legt sie zusammen mit den anderen ein Puzzle.
Mein Auftritt kommt erst ganz am Schluss. Wir sitzen alle in einem Kreis und Line, meine Lieblingslehrerin, und ich sagen: „Wir sind alle anders.“ Dann bleibt das Bild noch ein paar Sekunden auf meinem Gesicht stehen. Ich war vorher extra beim Friseur und trage ein Vintage-Trikot von Michael Ballack, mit der 13 auf dem Rücken. Pina fand: „Mit gewaschenen Haaren siehst du richtig gut aus.“
Alle, die mich im Film gesehen haben, fanden das. Alle, außer meiner Mutter. Die saß nur da mit ihrem zerknitterten Sorgengesicht und sagte: „Interessant.“ Ich hasse es, wenn sie so ist. Mein Vater sagt, dass die Kerbe in ihrer Stirn so tief ist, weil sie immer so grimmig guckt. Ich habe ihr schon ein paarmal vorgeschlagen, mal eine neue Creme auszuprobieren. Nach dem Fußball komme ich immer an einer Apotheke vorbei, an der eine Werbung für eine Faltencreme hängt, die das Gesicht nach ein paar Tagen wieder glatt macht.
Ich habe auch schon darüber nachgedacht, ihr diese Creme zu Weihnachten zu schenken. Vielleicht wird sie dann wieder wie früher auf den alten Fotos, die ich mir manchmal auf ihrem Telefon angucke: Mama, die noch ganz jung ist, liegt im Gras und wirft mich in die Luft. Mama, die immer noch nicht alt ist, steht mit einem bunten Sommerkleid im Regen und ich sitze auf ihren Schultern und halte den Schirm über uns beide. Sie war mal meine beste Freundin, aber das ist lange her. Jetzt motzt sie nur noch rum. Geh mal duschen, ich riech’ dich von weitem! Deck den Tisch! Kannst du dich nicht mal eine halbe Stunde allein beschäftigen?
Alles spricht für eine Playstation
Ich könnte mich sehr gut allein beschäftigen, wenn ich eine Playstation hätte oder ein Smartphone. Papa erlaubt mir abends eine halbe Stunde YouTube. Dann schau’ ich „Wumms“ oder Philip Parker. Der macht, obwohl er genauso schlecht singt wie Pina, supercoole Fußballlieder, Papa findet die auch lustig. Papa ist sowieso viel netter als Mama. Er arbeitet irgendwas mit Computern und kann mir ja schlecht die Medien verbieten, mit denen er sein Geld verdient.
Mit Papa kann man verhandeln. Noch fünf Minuten, dann Tisch decken, noch ein Song, dann duschen. Unser Verhältnis ist eher so von Mann zu Mann. Er hat mal gesagt, dass er alles, was er über Fußball weiß, von mir gelernt hat. Dürfte er bei uns zu Hause allein entscheiden, würde er mir vielleicht sogar eine Playstation kaufen.
Dann könnte ich jeden Nachmittag mit Matteo, Adam, Konstantin und Gustav bei mir auf dem Sofa sitzen und „Fortnight“ zocken, Fanta trinken, Takis essen und ein bisschen rumlabern. Bro, hast du am Wochenende Champions League geguckt? Bro, was glaubst du, wie lange Tuchel es in England aushält? Bro, was hältst du von den Vorwürfen gegen Mbappé?
Leider haben wir wenig Zeit. Ich muss zweimal die Woche zur Nachhilfe, dann habe ich noch Fußball und Theater. Und mittwochs, wenn es bei mir gehen würde, müssen die anderen zum Klavier oder zu Oma. Aber vielleicht ein anderes Mal, Rubi, wir schaffen das schon noch, Rubi.
Meine Mutter sagt, es liege an der Schule, dass ich keine Freunde mehr habe. Sie glaubt, dass es einfacher für mich wäre, wenn an der Schule mehr Kinder wären wie ich. Ich will aber nicht auf so eine Behindertenschule. Ich bin schon beim Behinderten-Fußball, weil die großen Klubs bei uns in der Gegend mich nicht wollen. Das ist echt hart. Am schlimmsten sind die Autisten, die machen einfach, was sie wollen. Die Autisten und Karim, aber der ist vielleicht auch Autist. Wenn der da ist, gehe ich gleich wieder nach Hause.
György aus meinem Theaterklub würde es genauso machen. „Wenn zu viele Bekloppte dabei sind, bin ich raus“, sagt er. Als er erfahren hat, dass unser Theaterklub inklusiv ist, wollte er eigentlich gar nicht mehr mitmachen. Er ist nur geblieben, weil er gemerkt hat, dass wir beide die Einzigen sind, die irgendwas haben. György, ich und vielleicht Tyler.
Tyler lebt in einer Pflegefamilie, weil seine Mutter die ganze Schwangerschaft über besoffen war. Aber das sieht man ihm nicht an. Er hat sogar schon eine Freundin. György hat Glasknochen. Seine Eltern wollen, dass er im Rollstuhl sitzt, weil er sich so schnell was bricht. Er findet Rollstühle aber total ehrenlos. Im Theater schubst er den Rolli sofort in die Ecke und humpelt dann mit seinen kurzen, krummen Beinen durch die Gegend.
György ist der Beste von uns allen. Er lernt nie seinen Text, er improvisiert und man weiß nie, was ihm als Nächstes einfällt. Vergangenes Jahr haben wir gemeinsam ein Stück über Macht entwickelt. Bei der Premiere hat György dann einen ekelhaften Immobilienmakler gespielt, der uns die Häuser abnehmen will, die wir selbst gebaut hatten, auf Berlinerisch. „Da haben se ihr janzet Leben auf dit Häusjen jespart und jetzt sind se alt und stellen fest, dat se nicht mal en barrierefreiet Klo haben.“ Danach, Bro, mehrere Minuten Standing Ovations.
Ich habe in meinem Part gesagt, dass Eltern, die ihren Kindern kein iPhone kaufen, vor den Internationalen Gerichtshof müssen, wegen Kinderrechtsverletzung. Zu meinem nächsten Geburtstag habe ich dann eines bekommen, kein iPhone leider, sondern ein Galaxy.
Mein Vater sagt, iPhones sind für Dummies, obwohl meine Mutter und meine große Schwester ein iPhone haben, ist aber jetzt auch schon egal. Das Galaxy ist schon wieder weg. Und ich weiß bis heute nicht, ob ich es wirklich im Garten verloren habe oder ob sie es mir abgenommen haben. Meine Eltern fanden, dass ich nicht gut damit umgehen kann. Angeblich bin ich immer total ausgerastet, wenn meine Bildschirmzeit vorbei war. Aber das stimmt nicht. Ich war nur sehr traurig und habe jedes Mal furchtbar geweint, weil ich wusste, dass ich erst wieder fröhlich sein kann, wenn das Display leuchtet.
Ich weiß nicht, was Erwachsene den ganzen Tag am Handy machen, aber bei Kindern ist es so: Sobald das Handy an ist, ist alles leicht. Es ist, als würdest du auf eine Reise gehen in ein schönes, buntes Land, in dem es keine Probleme gibt. Es geht nur noch um die Dinge, die dich wirklich interessieren. Um Fußball, Mädchen, Autos. Alle Jungs in meiner Klasse wollen später mal einen Lamborghini haben und hinten drin sitzen die Chicks und lassen sich von uns durch die Gegend fahren. 100.0000 PS. Bauch. Beine. Po.
Gleichzeitig schwärmen alle von Toni, die ganz anders ist als die Frauen im Internet. Sie sieht aus wie ein Junge, hat aber lange Haare und so ein schönes Gesicht wie Sophie von der Tann. Vor den Ferien hat sie einmal zu mir gesagt: „Rubi, du bist der lustigste Junge in der ganzen Schule.“ Daran musste ich in Italien die ganze Zeit denken.
Einmal, als meine Eltern geschlafen haben, habe ich ihr über den Klassenchat geschrieben, weil ich ihre Nummer nicht habe. „Toni, ich liebe dich. Wollen wir ein Date machen?“ Danach gab es einen Shitstorm gegen mich. Ich habe das alles nicht gelesen, lange Texte machen mir Stress, aber meine Schwestern haben es gelesen. Und diesmal war selbst die Große total sauer.
Alter, hat sie gesagt, bist du total bescheuert? „Man schickt keine privaten Sachen in den Klassenchat.“ Abends hat sie einen Vertrag aufgesetzt, in dem ich versprechen musste, nie mehr irgendwas Persönliches zu posten, nirgendwohin. „Wenn du dich nicht daran hältst, landet dein Handy im Mittelmeer.“ Pina hat geheult. Weil ihr das so peinlich war. Alles, was mit Liebe zu tun hat, ist ihr peinlich. Ich sage ihr die ganze Zeit, Liebe ist normal. Wenn man älter wird, ist man ständig verliebt. Ich bin ständig verliebt.
Das Kleid kurz über dem Po
Vor kurzem waren wir, also Pina, meine Eltern und ich, auf einem großen Familienfest irgendwo in Bayern. Wir hatten ein schönes, großes Haus gemietet, dort habe ich all meine Cousins und Cousinen getroffen und die Kinder von den Cousins und Cousinen meines Vaters. Wir waren bestimmt 30 Leute. Die Mädchen hatten ein gemeinsames Zimmer unter dem Dach, die Jungs haben bei ihren Eltern im Zimmer geschlafen. Paul, meinen Lieblingscousin, haben wir allerdings nur zu den Mahlzeiten gesehen. Den Rest der Zeit lag er mit seinem Handy im Bett. Aber dem hat keiner gesagt: „Merkst du eigentlich selbst, wie süchtig du bist?“
Weil ich kein Handy mehr habe, war ich meistens im Mädchenzimmer unter dem Dach. Auch wegen Henny. Wir sind gleich alt. Es gibt ein altes Foto von uns beiden, auf dem wir bei uns im Garten im Sandkasten spielen. Jetzt hat sie schon einen Busen und lange, glänzende rote Haare. Wir haben uns sehr gut unterhalten. Henny hat erzählt, dass sie auch gerne eine große Schwester hätte, aber leider selbst die große Schwester ist, dass sie Geige spielt und seit einem Jahr kein Fleisch mehr isst, ihre russischen Großeltern ihr aber immer noch Hühnchen auftischen, weil sie glauben, es bestehe nur aus Mais.
Ich fand die so toll, dass ich mir vorstellen konnte, den Rest meines Lebens nur noch Maishühnchen zu essen. Doch als ich Henny gefragt habe, ob sie sich vorstellen kann, später mal meinen Namen anzunehmen, ist irgendwas passiert. Ich glaube, es gab Mittagessen. Pina hat unserer Mutter später erzählt, dass Henny sich total über mich lustig gemacht hat. Hat sie nicht.
Als wir abends, wie jeden Sonntag, mit meiner großen Schwester videotelefoniert haben, hat sie uns das Kleid gezeigt, das sie sich für den Homecoming-Ball ihrer High School gekauft hat. Es war von oben bis unten mit kleinen goldenen Steinen bestickt. Unsere Eltern fanden es ein bisschen kurz. Pina und ich fanden es einfach nur schön.
Ich habe mir vorgestellt, wie meine Schwester in diesem Glitzerkleid, das schon kurz unter dem Po endet, auf dem Ball tanzt und alle ihre Unterhose sehen können. Und dann habe ich Panik bekommen. Was, wenn sie auf dem Ball einen Freund findet und nie mehr zu uns zurückkommt? Was, wenn Henny sich doch über mich lustig gemacht hat? Wenn ich nie mehr ein Handy bekomme? Sophie von der Tann von einer Bombe getroffen wird? Die schlechten Gedanken ratterten in meinem Kopf, bis mein Vater sich zu mir gelegt und meine Ohren gekrault hat, als wäre ich ein Baby.
Am nächsten Tag bin ich mit Matteo und den anderen nach der Schule noch zu Netto. Ich hatte mein ganzes Taschengeld dabei und davon haben wir einen riesigen Karton Magnum-Eis gekauft, also kein richtiges Magnum, sondern Billig-Magnum von Netto. Jeder hat so viel gegessen, wie er konnte, bestimmt zwei oder drei Tüten. Den Rest haben wir auf dem Parkplatz gegen eine Betonwand geworfen. Das sah so geil aus, wie die Verpackung aufgeplatzt und das Eis dann auf die Wand gespritzt ist.
Platsch! Platsch! Platsch! Die Erwachsenen, die ihre Einkäufe zu ihren Autos schoben, haben den Kopf geschüttelt. War ja nicht ihr Eis.
Nur einer, so ein hobbyloser Typ in der dunkelgrünen Patagonia-Jacke, die alle Dads gerade tragen, hat total die Nerven verloren und rumgebrüllt. Die Jugend von heute, alles verwöhnte kleine Arschlöcher und so. Matteo und die anderen waren dann schnell weg. Nur ich stand noch da und wusste nicht, was ich machen sollte. Ich hatte echt Angst, dass der wütende Patagonia-Dad mich mit seinem Einkaufswagen überrollt. Dann hat er mich genauer angeschaut und ist schnell weitergelaufen.
Es war der schönste Nachmittag in meinem Leben.