„Ich halte Politiker ja immer für Helden oder Verbrecher. Okay, ein paar sind auch Trottel.“
Fangen wir gleich ganz direkt an: Was empört dich
gerade am meisten
Ich arbeite hart daran, mich nicht mehr zu empören. Ich versuche im Blick zu behalten, dass wir von so viel Information überfordert sind, die frühere Generationen nicht gehabt haben. Wir sind überinformiert und dadurch desinformiert und verwirrt, wie das in der Geschichte der Menschheit noch nicht der Fall war. Das ist, was uns so zusetzt und was die Amplituden ausschlagen lässt.
In den sozialen Medien?
Es wäre ja schön, wenn es sich darauf beschränken würde. Es gibt Schätzungen, wonach die Menschen im Mittelalter in einem ganzen Leben so viele Informationen verarbeiten mussten wie wir an einem einzigen Tag. Und selbst wenn es nicht ein Tag ist, sondern ein Jahr oder
mehr: Es setzt uns zu. Früher wussten Menschen, was in ihrem Fachbereich, in ihrer Kleinstadt und vielleicht noch in ihrem Land passierte. Alles andere war wie hinter einem dicken Vorhang – und das war nicht nur schlecht. Das muss man sich heute manchmal vor Augen halten. In ihrer katastrophischen Ausprägung ist die Welt wahrscheinlich nicht so viel anders als früher.
Die Welt war immer schon scheiße und wir sollten uns deshalb nicht so aufregen?
Kriege, Katastrophen, Umweltzerstörung und bedrohliche Voraussagen über die Wirtschaftslage gab es immer. Die Häufung der Information lässt das alles aber heute so unausweichlich wirken. Im 30-jährigen Krieg bist du jederzeit in Lebensgefahr gewesen, durch den Krieg, durch Seuchen, weil dein Fürst durchgedreht ist oder gerade wieder irgendeine protestantische oder katholische Horde durchs Land gezogen ist. Wir machen uns heute auf sehr hohem Niveau Sorgen, jedenfalls in der westlichen Welt. Es bedrückt mich moralisch, dass wir natürlich auch sehr viel besser wissen, was wir als Westen dem Rest der Welt antun.
Credit: Mark Pock
Ist es nicht eher so, dass uns in Europa die Krise überfordert, weil die vergangenen Jahrzehnte einfach enorm angenehm waren? In den 80ern und 90ern waren vielleicht einzelne Bands schlimm. Aber sonst?
Habt ihr den Kalten Krieg vergessen? Ich bin ja ein paar Jahre älter und gehöre der No-Future-Generation an. Wir sind im Schatten des drohenden Atomkriegs aufgewachsen. Es war ein tiefer Schatten. Ich hatte wirklich Panik. Ich kann mich erinnern, dass ich mit 16 ganz aufgeregt und empört schreiend mit den für mich skandalös gelassenen Freunden meiner Eltern diskutiert habe, die nicht verstehen wollten, dass demnächst der Dritte Weltkrieg ausbricht und wir alle bald tot sein werden.
Deine Eltern und ihre gelassenen Freunde behielten recht.
Aber aus dieser Angst ist für mich und meine Generationsgenossen später etwas sehr Positives entstanden, nämlich durch das Jahr 1989. Plötzlich brachen all diese Bedrohungen in sich zusammen. Wir sind also in einer Welt groß geworden, die lange Zeit immer besser, offener, demokratischer und zugänglicher geworden ist. Insofern haben wir einen Optimismusvorsprung gegenüber den heutigen jungen Menschen, die jetzt in diese wieder ganz andere, engere Welt hineinwachsen. Und sie haben vielleicht einen Pessimismusvorsprung, den ich nachvollziehen kann, weil vor 1989 war es ja auch richtig scheiße.
"Ich kann mich erinnern, dass ich mit 16 ganz aufgeregt und empört schreiend mit den für mich skandalös gelassenen Freunden meiner Eltern diskutiert habe, die nicht verstehen wollten, dass demnächst der Dritte Weltkrieg ausbricht und wir alle bald tot sein werden."
Aber dann kamen zehn gute Jahre.
Gefühlt sind es sogar noch mehr gewesen. Der 11. September 2001 war die Zäsur, aber man hat damals, wie übrigens meistens in der Geschichte der Menschheit, nicht sofort verstanden, dass es ab nun in die andere Richtung geht.
Einen echten Grund dafür, auch so gelassen wie deine Eltern und ihre Freunde zu bleiben, hast du uns aber jetzt immer noch nicht gegeben.
Ich halte es für vernünftig, sich klarzumachen, dass das Ausmaß an Übel und Katastrophen in der Welt eher gleich bleibt oder jedenfalls nicht exponentiell größer wird, auch wenn uns das heute durch die exponentiell vervielfachte Informationsflut so scheint. Ich glaube, man muss das wahrnehmungsphilosophisch betrachten.
War die Gelassenheit deiner Eltern vielleicht eher auch die Einsicht, dass sie als Personen den drohenden Atomkrieg nicht verhindern hätten können? Wir haben heute ja nicht nur mehr Informationen, sondern dadurch, dass jeder bei allem mitdiskutieren kann, auch das Gefühl, etwas bewirken zu können, was vielleicht gar nicht stimmt. Wobei, gleichzeitig erscheint es in der österreichischen Wahrnehmung grad ganz völlig unausweichlich, dass die FPÖ eher früher als später wieder in die Regierung kommt. Wenn nicht jetzt, dann bei der nächsten Wahl. Kickl braucht sich nur zurückzulehnen und weiter die Nummer von der Einheitspartei und die von ihm gegen das System abzuspielen.
Das ist in Deutschland nicht so viel anders. Bei den Wahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen wurde die AfD gerade einmal stärkste und zweimal nur knapp zweitstärkste Partei. Politiker wie Kickl haben momentan fast überall Erfolg, und ich glaube wirklich, dass das mit dieser Wahrnehmungsstörung zu tun hat, der wir alle unterliegen. Ununterbrochen fordert die Beschleunigung durch die Digitalisierung uns ab, uns zu etwas zu verhalten. Wir bilden uns ein, ständig auf etwas reagieren zu müssen, mit Zustimmung oder mit Ablehnung. Sie macht uns total hysterisch.
Aber doch nicht uns alle?
Das Problem ist, dass die neuen Technologien sich besonders zwingend auf Journalismus und Politik auswirken und vor allem Journalisten und Politiker das Gefühl haben, dass sie ununterbrochen hinterher sein und reagieren müssen. Dadurch kommt es zu einer totalen Erosion der Berichterstattung, weil ja einfach irgendwie alles berichtet wird, auch wenn es sich als falsch oder fehlerhaft erweist. Und es kommt zu einer Erosion des Regierens, weil alles ganz kurzfristig gelöst werden soll. Ich rate ja zu einem ganz einfachen Experiment: Das Handy ausschalten und zwei Tage in die Berge wandern gehen. Wenn man zurückkommt, steht die Welt erstaunlicherweise immer noch.
Nur dass dann halt vielleicht die FPÖ regiert.
Ja, vielleicht hätte man noch eine Online-Petition unterschreiben können in den 48 Stunden, aber das hätte die Sache wohl nicht aufgehalten. Die Welt steht immer noch. Die Müllabfuhr kommt, die Rettung würde kommen, wenn man sie bräuchte, auch die Polizei. Und wenn es zwei Tage sind, in denen keine Regierung gebildet wird, passiert sogar noch weniger und man versäumt überhaupt nichts. Wir stecken mit unseren Fingern viel zu sehr in den Steckdosen der Hysterie und glauben dauernd, dass unsere Meinung, unsere Haltung und unsere Intervention gefragt sind, die aber nur daraus bestehen, etwas zu liken oder weiterzuverteilen. Es ist eine Massenhysterie, die zu Wut-Phänomenen führt.
Credit: Mark Pock
Mit Wut-Phänomenen meinst du die diffuse Wut „gegen das System“? Oder die Wut, die sich etwa konkret gegen Politikerinnen wie Leonore Gewessler oder Annalena Baerbock richtet?
Das gehört für mich beides zusammen. Eine gewisse Unzufriedenheit mit der Politik ist, glaube ich, immer da gewesen und normal, aber die Wut heute wird größer, weil die Welt so unlesbar geworden ist. Die, die dafür einfache Lösungen versprechen, sind im Vorteil, obwohl wir eigentlich alle in der Schule genug zum Beispiel über die Nazis gelernt und erfahren haben, was mit einfachen Lösungen gemeint ist. Dennoch wächst bei vielen auch heute wieder der Wunsch, dass da jemand einfach die Stopptaste drückt. Der das, was sich nach Irrsinn und Zuviel anfühlt, abdreht.
Vor zehn Jahren hat man Politiker nicht zwingend für Vollidioten gehalten. Mittlerweile wirkt das bei erstaunlich vielen Menschen so.
Ich halte Politiker ja entweder für Helden oder Verbrecher, gut, ein paar sind auch Trottel. Aber entweder sind sie Populisten, so Teflonmenschen wie Trump und Kickl und wie es auch Jörg Haider schon war, der ja für eine Frühform dieser faktischen und moralischen Unverschämtheit steht, die heute viel häufiger durchkommt. Haider hat die Lüge als adäquates Instrument etabliert, um weiterzukommen. Wer so drauf ist, lügt, so wie man beim „Mensch-ärgere-dich-nicht“ die anderen rauskickt - einfach als Teil der Regeln. Aber es gibt immer noch diese anderen, die wirklich etwas wollen, die natürlich Fehler machen und durch die neue Empfindlichkeit – der Zwillingsbruder der Unverschämtheit - dauernd gezwungen werden, sich dafür zu entschuldigen.
Meinst du jetzt zum Beispiel Armin Laschet, der als Spitzenkandidat der CDU bei der Besichtigung der Hochwasserschäden vor der Bundestagswahl lachte, während die Fernsehkameras an waren?
Er ist ein Beispiel von vielen. Politiker mussten sich für falsche Tweets entschuldigen, für überzogene Aussagen, und zwar immer wieder, während die Welt gleichzeitig voll mit diesen unverschämten und skrupellosen Lügnern wie Trump ist. Laschet hat aber auch sehr unsouverän reagiert, als er deswegen attackiert wurde. Bei Habeck, der ja auch viel und oft zu Unrecht attackiert wird, ist das anders. Der hat ein anderes Format und wahrscheinlich brauchen das Politiker heute noch mehr als früher: eine gewisse Standfestigkeit, Unbeirrbarkeit und ein Wissen, wo sie selbst stehen. Das ist das Einzige, womit man überhaupt noch überleben kann: menschliche Reife und Größe.
Das heißt, die Politiker*innen, die es richtig machen wollen, werden viel zu streng beurteilt und können quasi gar nichts richtig machen, während andere einfach lügen und erstaunlich gut damit durchkommen?
Bei Jörg Haider hab’ ich das noch für ein rein österreichisches Phänomen gehalten, aber das habe ich wohl zu klein gesehen: Ich glaubte damals, dass Haider so beliebt ist, weil er mit allem gebrochen hat, wozu man in Österreich erzogen wurde. Mit dem Wohlverhalten, still sein, höflich sein, nicht laut und nicht zu gach geschminkt sein. Er hat mit all dem gebrochen. Scheiß auf das Bravsein, das hat er vermittelt. Aber auch die Amerikaner finden an Trump heute gut, dass er tut, was man eigentlich nie durfte – das kann man mit der österreichischen Erziehung nicht mehr erklären. Es ist eine allgemeine Bewunderung für das Überschreiten von Regeln entstanden – wie die Bewunderung der Kleinkinder für den Bully, den Rabauken.
"Aber auch die Amerikaner finden an Trump heute gut, dass er tut, was man eigentlich nie durfte – das kann man mit der österreichischen Erziehung nicht mehr erklären. Es ist eine allgemeine Bewunderung für das Überschreiten von Regeln entstanden – wie die Bewunderung der Kleinkinder für den Bully, den Rabauken."
Bei Trump ist das so, aber in der FPÖ war es eher Strache, der in dieses Bild passt.
Björn Höcke und Götz Kubitschek machen auch alles, was man eigentlich nicht darf: völkische Sprache, gegen Erinnerungskultur, und mit eiskaltem Lächeln.
Kickl hingegen funktioniert wahrscheinlich deshalb so gut, weil er sich total bieder gibt. Er stellt sich inhaltlich dorthin, wo man gerade nicht sein darf, wie zum Beispiel bei den Corona-Maßnahmen.
Trump hingegen macht alles, um das absolute Gegenteil von der Würde und Intellektualität auszustrahlen, die zum Beispiel die Obamas gehabt haben. Er ist unheimlich grob, hat aber einen Instinkt dafür, was funktioniert. Es hat in jedem Fall etwas mit Überschreitung zu tun, damit, sich nicht mehr benehmen zu wollen, zumindest gilt das für die, die wählen. Das gilt vielleicht nicht für alle Länder, aber es gehört zu einer Welle, und die erzeugt etwas, das Gustav Seibt „sich selbst lähmende Demokratien“ nennt. In Frankreich und Israel kann man das sehen, in den USA sowieso: Wie kannst du überhaupt noch regieren, wenn du bei so vielen Themen fast automatisch das halbe Land gegen dich hast? Das ist eine Entwicklung, die parallel zur und befeuert von der Digitalisierung gelaufen ist.
Trotzdem: Offenbar kann eine gute Kandidatin wie Kamala Harris dann doch auch aufzeigen, wie groß der Irrsinn auf der anderen Seite ist. Jetzt wissen wir noch nicht, wie die Präsidentschaftswahl ausgeht, aber so aussichtslos wie zu Beginn des Sommers sieht es nicht mehr aus. Der garantierte Weltuntergang ist nicht mehr ganz so sicher.
Die Beschleunigung durch die Digitalisierung bringt auch mit sich, dass sich erstaunlich kurzfristig noch Dinge ändern können. Nach dem Anschlagsversuch auf Trump hat jeder geglaubt, dass ihm die Präsidentschaft nicht mehr zu nehmen ist, aber dann hat es mit dem Rückzug von Bidens Kandidatur eben wieder in die andere Richtung ausgeschlagen. Wo es so knapp steht wie in den USA, besteht immer die Möglichkeit, dass relativ kurzfristig eine große Mobilisierung ausgelöst wird, in die eine wie die andere Richtung. Einzelne Ereignisse können dadurch viel mehr Wirkung haben, als es Demokratien eigentlich zuträglich ist. Demokratie sollte langsam sein, nicht revolutionshaft.
Du glaubst, dass sich alles nur noch ultrakurzfristig orientiert?
Ich glaube, dass viele Menschen verzweifelt und desorientiert sind und kein Vertrauen mehr in die Politik haben. Wohin das führt, weiß ich nicht. Bei Politikern oft zu Kurzschlusshandlungen. Ich will auch gar nichts prophezeien, das ist nicht mein Metier. Alles, was ich versuche, ist zu analysieren, was da ist.
Das war der Anfang eines sehr langen Gesprächs mit Eva Menasse.
Den Rest gibt's in Fleisch 72 (8 Euro bei der Trafik)