Hat man als Politikerin Macht?
Na klar.
Sorry, aber Sie sind Klubobfrau der kleineren Koalitionspartei, eingebunden in viele Strukturen, außerdem gebunden an einen detailliert ausgehandelten Koalitionsvertrag.
Und heißt es nicht immer, der Gestaltungsspielraum für Politiker:innen wäre durch die EU sehr begrenzt? Wirklich regieren kann man ja nur über das Budget und da sind die Spielräume sehr begrenzt. Also: Wo haben Sie Macht?
Täglich. Jede Entscheidung, die ich treffe, ist Macht. Mit jeder Entscheidung, jedem Gesetz, jedem Beistrich, den wir einfügen oder streichen, ändern wir das reale Leben von realen Menschen. Wenn das nicht mächtig ist, was ist dann Macht?
Wie weit gehen Sie dabei? Denken Sie bei Ihren Entscheidungen an reale Menschen? Haben die vielleicht sogar Namen?
Natürlich frage ich mich, was diese oder jene Entscheidung für einen konkreten Menschen bedeutet. Aber ich bin Soziologin, ich habe grundsätzlich Schichten und Gesellschaftsgruppen im Kopf. Das ist dann nicht die einzelne Person Annemarie, mein Zugang ist da systemischer.
Schade. Tina hatte nämlich einen Namen.
Das ist ein ganz schlechtes Beispiel, gerade im Fall von Tina war ich völlig machtlos. Da gab es Anwälte, die irgendwas gemacht haben oder nicht, da gab es Gerichtsurteile und eine völlig verfahrene Situation, an der ich als Klubobfrau, an der wir als grünes Regierungsteam nichts ändern konnten. Wenn da jemand was tun hätte können, war es das Innenministerium, das war aber für uns nicht beeinflussbar.
Trotzdem sind gerade diese Bilder, auf denen schwer bewaffnete Alarmpolizisten kleine Mädchen aus der Schubhaft zerren und unter Polizeischutz zum Flughafen bringen, für viele Grün-Wähler:innen das Schlimmste, was in den vergangenen Jahren passiert ist – und Grund genug, sie nie wieder zu wählen.
Wir können in konkreten Einzelfällen sehr wenig machen. Es gibt geltende Gesetze, die einzuhalten sind und die man derzeit nicht ändern kann. Wir haben strukturell eine rechte Mehrheit in diesem Land und sogar die SPÖ wäre hier nicht zu gebrauchen. Weil ganz ehrlich, was ist denn die klare Position der Sozialdemokratie zu Asyl- und Aufenthaltsrecht? Also ja, wenn sich die Mehrheitsverhältnisse ändern, dann können wir auch diese Dinge ändern. Aber die letzten 17 Asylrechtsverschärfungen hat die Sozialdemokratie alle mitbeschlossen.
Gerade im Fall von Tina war ich völlig machtlos.
Es geht hier aber nicht um die SPÖ, sondern um die Grünen, die gerade bei Fällen wie Tina ihre Klappe gehalten und unschuldige Kinder for the greater good alias die Regierungsbeteiligung und ein paar Posten außer Landes geworfen haben. Glaubwürdige Politik sieht anders aus.
Sorry, aber von Klappe halten kann doch nicht die Rede sein. Wir haben uns klar positioniert, von Werner Kogler abwärts, der halbe Grüne Parlamentsklub ist in der Nacht der Abschiebung vor dem Schubhaftzentrum in Simmering gestanden und hat demonstriert. Wir haben eine Kindeswohlkommission eingerichtet und auch dem Innenminister ausgerichtet, wie wir darüber denken. Aber klar: Wir haben ein System, das darauf ausgerichtet ist, es für die Menschen möglichst unerträglich zu machen. Und in dem Moment, wo ein Höchstgericht entschieden hat, wird es auch für den Minister schwer, auch wenn ich glaube, er hätte hier Möglichkeiten gehabt. Es gibt die Gewaltenteilung aus gutem Grund. Warum sollten Dinge, die wir in anderen Bereichen richtig finden, plötzlich nicht mehr richtig sein, wenn es um grüne Kernthemen geht?
Weil die Grünen angetreten sind, um Dinge zu ändern, Dinge, die ihren Wähler:innen wichtig sind. Und ein menschliches Asylwesen gehört da ganz vorne mit dazu. Außerdem fühlen sich viele NGOs, die in dem Bereich arbeiten, den Grünen verbunden und treten manchmal ein bisschen wie grüne Vorfeldorganisationen auf.
Also ganz zuallererst einmal die Fakten: Tina ist wieder in Österreich, sie kann ihre Schule hier besuchen und abschließen, das freut uns sehr und wir haben, was wir konnten, dazu beigetragen, dass das klappt. Aber nochmals: Wir haben nicht die Mehrheit, mit der wir die Gesetze ändern könnten, also muss man anders arbeiten. Ja, manchmal verkennen NGOs und unsere eigenen Wähler:innen die realen Machtsituationen. Da gibt’s oft Wahrnehmungen, die falsch sind. Eine Verhandlung ist halt keine Erpressung, auch wenn sich das manche wünschen. Wir können halt, wenn wir mit der ÖVP zusammensitzen, nicht sagen: „Entweder wir bekommen das oder wir gehen wählen“ – und schon tritt der wundersame Verhandlungserfolg ein.
Haben die Grünen schon mal mit Neuwahlen gedroht?
Nein, noch nie. Eher im Gegenteil. Wenn Sie sich an die Situation rund um die Ablöse von Sebastian Kurz erinnern, dann haben wir ja gerade damit gedroht, dass wir keine Neuwahlen ermöglicht hätten. Wir hätten den Misstrauensantrag der Opposition unterstützt, aber dann gemeinsam mit der Opposition noch länger keinen Neuwahlantrag beschlossen, weil wir zuerst die Vorwürfe aufgeklärt haben wollten. Das hat Sebastian auch verstanden und ist deswegen auch zur Seite getreten, wie er es nannte.
Wir haben damals die Chats gelesen und die strategischen Optionen ausgelotet. Hätten wir Blümel gestürzt, hätte es Neuwahlen gegeben und Sebastian Kurz hätte wohl zum dritten Mal einen „Jetzt-erst-recht-Wahlkampf“ gemacht.
Apropos Rücktritte: 2019 ist die Partei mit der Parole angetreten „Wen würde der Anstand wählen“, und dann kommen die Grünen als angeblicher Anstand in die Regierung, dem Koalitionspartner fliegen der Reihe nach Skandale, ChatProtokolle und Postenschachereien um die Ohren und ihr macht Ihnen brav die Mauer. Allein der Moment, als die Chat-Konversationen zwischen Novomatic und Gernot Blümel auftauchten, da war die Rolle ganz besonders unangenehm. Da habt ihr ebenfalls enorm viel Glaubwürdigkeit verloren.
Ja, da gab es einige schwierige Entscheidungen für uns. Allein diese eine Pressekonferenz zur Hausdurchsuchung bei Gernot Blümel. Die Opposition wollte ihm in einer Nationalratssitzung das Vertrauen entziehen und wir haben uns entschieden, nicht mitzugehen. Das war knifflig. Am Ende hat es sich zwar bestätigt, dass wir uns richtig entschieden haben, weil die Ermittlungen gegen ihn eingestellt wurden – aber ja, die Situation war sehr, sehr stressig.
Der Grüne Parlamentsklub hat Blümel nicht das Vertrauen entzogen, obwohl der Eindruck aus diesen Chats verheerend war.
Dementsprechend hoch war der öffentliche Druck. Aber wir hatten in dieser Situation deutlich mehr zu entscheiden. Hätten wir dem Finanzminister das Vertrauen entzogen, dann hätten wir damit wohl die Regierung beendet. Mitten in einer Pandemie. Mitten in einer extrem schwierigen Gesamtlage. Und das alles auf Basis einer SMS, die in der hitzigen Debatte und der öffentlichen Empörung extrem schwierig einzuschätzen war. Wir haben damals die Chats gelesen und die strategischen Optionen ausgelotet. Hätten wir Blümel gestürzt, hätte es Neuwahlen gegeben und Sebastian Kurz hätte wohl zum dritten Mal einen „Jetzt-erst-recht-Wahlkampf“ gemacht und ihn wohl auch gewonnen. Mit uns hätte er dann sicher nicht weiterregiert. Man darf ja nicht vergessen, dass Kurz damals noch nicht in die Chats involviert war.
Wie sehr haben Sie diese Nachrichten überrascht?
Manche Nachrichten waren wirklich übel, bei anderen finde ich auch da die Reaktionen überzogen, Chat-Nachrichten sind am Ende trotzdem Chat-Nachrichten, die man in ihrem Gesamtkontext bewerten muss. Ich bin eher eine Freundin von stringenter Beweisführung. Auf Sachen immer ad hoc zu reagieren, kann auch problematisch werden.
Haben die Chats irgendwas an Ihrem Bild von Kurz, Blümel, Fleischmann oder auch Thomas Schmid verändert oder haben Sie sich nur gedacht: „Weiß ich eh, wie die drauf sind.“
Nein, mein Eindruck hat sich nicht verändert. Ich muss aber sagen, Gernot Blümel ist mit dem allen am souveränsten umgegangen.
Haben Sie noch Kontakt zu ihm?
Ich habe ihn unlängst zufällig in einem Lokal getroffen.
Erschienen im Sommer 2022. Fleisch 64 – Sigi Maurer – ist bestellbar im Abo oder als Einzelheft unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!