Seid ihr noch da?

Fleisch 58, Winter 2020 
Text: Sara Geisler
Fotos: Verena Gotthardt                              

Altern ist eine Art Entfärbung. Je älter Menschen werden, desto lieber tragen sie ihre Kleidung in Naturfarben. Dafür gibt es sogar einen Namen: das Rentnerbeige. Eine Spurensuche.

 

Als ich letztens im Theater saß und darauf wartete, dass sich der Vorhang teilt, tat sich vor mir ein riesiges Karfiolfeld auf. Egal, durch welche Reihen meine Augen wanderten, überall spross Blumenkohl. Beige, weiße, manchmal auch silbrige Röschen, flauschig toupiert, so weit das Parkett reichte. Ich schaute zu den Seiten hoch und auch da: Ränge über Ränge voll Blumenkohl. Ich musste unentwegt an Reisterrassen denken. Als die Glocke zur Pause läutete, erhoben sich die Röschen gemächlich und doch dringlich und zum Vorschein kam jeweils: ein beiger Strunk. Die Strünke, die sich keuchend zu den Toiletten schoben, kamen in unterschiedlichen Größen und Tönen daher. Mal ging es mehr ins Sandige, mal schimmerte etwas Violettes durch. Eines aber hatten alle gemeinsam: Sie waren kein junges Gemüse. Pietätlose Zungen hätten vielleicht sogar gesagt: Diese Strünke sind erntereif.

An der Farbe Beige und ihrer demografischen Verteilung haben sich schon viele abgearbeitet. Kabarettisten, Feuilletonisten, ungeduldige Hauptschüler an Supermarktkassen. Sogar ein eigenes Wort hat sich etabliert: Rentnerbeige. Doch über die reine Beobachtung, dass alte Menschen gerne diese „Nichtfarbe“ tragen, und ein „Haha“ gehen die meisten Stilkritiken nicht hinaus. Das ist bedauerlich. Denn Beige verrät so viel über uns, über Angebot und Nachfrage, über das Leben und den Tod – ja, wenn nicht sogar alles.

Beige macht nichts, was echte Nichtfarben machen. Schwarz absorbiert alles Licht, Weiß reflektiert alles Licht, Beige aber macht weder noch. Beige passiert, wenn Bodylotion am Rand eintrocknet, Altbautüren auf die hundert zugehen oder sich sehr lange sehr viele Zigaretten an Hotelwände schmiegen. Beige sieht aus, wie Haferschleim schmeckt und recyceltes Klopapier riecht. Ein dreckiges Weiß, ewig während und zart zugleich wie eine Holunderblüte, auf Englisch übrigens Elderflower – elder, so wie älter –, das kann kein Zufall sein. Bleibt nur die Frage: Warum zieht man sich so an?

 

 

Die Suche nach einer Antwort trieb mich hinaus. Direkt vor meiner Haustür, Berlin Neukölln, gleich ein Volltreffer. Eine ältere Dame führte ihren Zwergspitz Gassi. Man sagt ja über Paare, sie würden sich über die Jahre hinweg optisch angleichen. Bei diesem Hund und seinem Frauchen war es genauso: Der Hund war beige, die Dame war beige. Sie trug eine eierschalenfarbene Jacke mit rautenförmigen Abnähern, wahrscheinlich Daune, dazu eine blaue Hose und cremefarbene Schuhe, die sehr bequem aussahen. Auch die Sohle war beige.

„Verzeihung“, sprach ich die Dame an.
Sie blieb stehen und schaute freundlich zu mir hoch.
„Warum tragen Sie diese Jacke?“
Jetzt runzelte die Dame ihre Stirn, hörte aber nicht auf zu lächeln und sah an sich hinunter. „Gefällt sie Ihnen denn nicht?“
„Doch, doch, ich frage mich nur, warum reife Menschen gerne Beige tragen.“
„Gibt ja nichts anderes für uns“, sagte die Dame und wünschte mir einen schönen Tag.

Ich besorgte mir ein paar Special-Interest-Prospekte, wobei sich der Special Interest aufzufächern schien in: nicht hinfallen, es warm haben, sich nicht einnässen und große Wähltasten haben. Eines fiel beim Durchblättern sofort auf: Beige kommt oft in einer bestimmten Materialität daher. Gewachstes Gewebe, Glattleder gelocht, Wildleder gewebt, Kamelhaar und alles mit Klettschluss. Die Stichprobe aber war nicht groß genug, es waren schließlich nur zwei Faltblätter, um als signifikant durchzugehen. „Wenn ich ein Silver Surfer wäre“, dachte ich mich in die Pensionisten hinein, „wo würde ich einkaufen?“.

Auf Seniorenmode24.de wippten mir vier Betagte entgegen. Jeder saß auf einer Schaukel und trug mindestens ein beiges Kleidungsstück, zweimal kombiniert mit braun, einmal grau und einmal Flieder. Bei Walzvital.de ging ich systematisch vor und ließ das Angebot nach Farben sortieren. Als erste Filteroption wurde „beige“ vorgeschlagen, zusätzlich standen noch „natur“ und „gold“ zu Auswahl. „Aha! Eindeutiges Nudging“, vermerkte ich. Wellsana.de warb abenteuerlustig mit „Ob für den Spaziergang am Nachmittag oder die Radtour durch den Park – wählen Sie Mode nach Ihrem Geschmack.“ Die ersten drei Produktvorschläge („Bequem-Söckchen“, Kompressionsstrümpfe, ein 4er-Set BH-Erweiterungen) – alle nudefarben. Andere Geschäftszweige, ich war inzwischen bei den Sanitätshäusern angekommen, schienen dem Trend zu folgen. Relaxsessel, Sitzerhöhungen, Treppenlifte? Sandfarben. Hier aber endete die Recherche in einer Sackgasse, am einen Straßenende das Huhn, am anderen das Ei.

Wenn man jung ist und nicht auffallen will, zumindest nicht unangenehm, dann trägt man Schwarz. In Schwarz wird die eigene Existenz nicht infrage gestellt, in Schwarz wird man in Ruhe gelassen. Emos und Einbrecher tragen die Farbe aus Kalkül, Trauernde und Teenager aus Instinkt. Noch etwas wackelig auf den Beinen? Greif zu Schwarz! Plötzliche Rundungen oder Röllchen fallen ja nur auf, wenn ein Stoff Schatten wirft. Ab einem bestimmten Alter nimmt die körperliche Unsicherheit wieder zu und man könnte meinen, auch der Schwarzanteil im Kleiderschrank.

 

Dass man in Beige nicht nur gut, sondern auch stunning aussehen kann, bewies Kamala Harris. Ihre erste Rede als US-Vizepräsidentin hielt sie in cremefarbenem Anzug und seidiger Schleifenbluse, eine Reverenz an die Suffragetten. 

 

Joe Hallock, ein Designer und Forscher, hat Anfang der Nullerjahre Menschen nach ihren Lieblingsfarben gefragt. Die meisten von ihnen waren aus den USA, die Erkenntnis aus seiner „Farbzuweisungsstudie“ aber ist universell: Alle lieben Blau. Blau ist die Farbe des Unveränderlichen, die Farbe des Himmels und des Meeres. Keiner anderen Farbe vertrauen wir so sehr, Alter egal, was auch die WHO weiß, die Deutsche Bank und manche Parteien. Die Präferenz der Farbe Schwarz aber nimmt im Alter ab. Etwa jeder zehnte 36- bis 50-Jährige nannte sie seine Lieblingsfarbe, bei den bis 69-Jährigen nur noch jeder Fünfte. Darüber: niemand. Die Gruppe 70+ hatte neben Blau nur noch eine andere Lieblingsfarbe: Weiß. Beige stand nicht zur Auswahl.

„Entschuldigung?“, fragte ich eine Dame an der Bushaltestelle Harzer-, Ecke Wildenbruchstraße. Sie trug ehrlich gesagt weniger Beige als Altrosa, kombiniert mit einer gelben Mütze.
Die Dame sagte nichts und schaute weiter die Straße entlang, als würde ihr Bus jede Sekunde vorfahren.
„Hätten Sie vielleicht einen kleinen Moment?“, schob ich nach und wunderte mich über mich selbst. Fehlte nur das Klemmbrett.
„Ich versuche herauszufinden, warum die Farbe Schwarz im Gegensatz zu Beige bei älteren Menschen so unbeliebt ist“, fuhr ich unbeirrt fort.
Jetzt drehte die Dame ihren Kopf zu mir.
„Ach so“, sagte sie, „hm, also ich mag Schwarz eigentlich sehr gerne. Aber je älter man wird, desto öfter muss man auf Beerdigungen. Da macht es irgendwann keinen Spaß mehr, sich dunkel anzuziehen.“

Auf manchen Farben liegt mehr Last als auf anderen. In den 1920er-Jahren stellten Forscher Versuchsteilnehmern Kisten hin und ließen sie schätzen, wie schwer sie waren. Die weiße Kiste schätzten die Probanden im Schnitt auf drei Pfund. Dieselbe Kiste in Schwarz, gleiche Größe, gleicher Inhalt, auf 5,8 Pfund. Fast doppelt so schwer. Die Versuchsteilnehmer waren nach dem Tragen der schwarzen Kisten auch schneller erschöpft. „Wem schon die Treppen ins Hochparterre in die Knie gehen“, überlegte ich, „der meidet zusätzliches Gewicht vielleicht intuitiv.“

Zurück zu Hause gönnte ich mir einen Schluck Sahne in den Kaffee, so ganz überzeugte mich die These mit der Leichtigkeit bisher nicht. Ich kippte noch einen Schuss Baileys dazu und blätterte in der Apotheken Umschau. Dort stieß ich auf einen Augenarzt, Thomas Berninger, Prof. Dr. Dr. med. habil., ein Spezialist auf dem Feld des Farbensehens. „Vielleicht“, schöpfte ich Hoffnung, „gibt es ja ganz handfeste Gründe.“ Seine Sekretärin notierte mein Anliegen und versprach, es dem Doktor zu unterbreiten. Er rief noch am selben Tag zurück.

„Herr Berninger, sieht für alte Menschen die Welt gleich aus wie für junge?“, fragte ich.

„Nein. Anders als die meisten Zellen können sich die in unserer Augenlinse nicht erneuern. Die Linse wird härter, trüber und filtert bestimmte Teile des Farbspektrums heraus“, kam es aus Bayern zurück.

„Und was für welche?“
„Den kurzwelligen Bereich. Deshalb sehen ältere Menschen Blau und Violett deutlich schlechter“, sagte der Augenarzt.
„Könnte das erklären, warum sie so gerne Beige tragen?“
„Nein, ich denke nicht. Aber dass Weiß für sie beige ausschaut. Alles bekommt einen leichten Gelbstich.“

Nachdem wir aufgelegt hatten, musste ich noch lange über die knusprigen Augenlinsen nachdenken. Wie das wohl ist, wenn die Welt alle Frische verliert? Wenn die blaue Stunde zur grauen wird und jede Piste gelb überzogen? Auch den Doktor ließ die Sache nicht los. Er konsultierte noch einen weiteren Experten und schickte mir spätabends eine E-Mail. Eine physiologische Erklärung, zertippte er meine letzte Hoffnung, hätte er für die Verbeigung leider immer noch nicht. Aber seine stilsichere Frau, Ende 50, hätte zumindest eine psychologische: Beige mache im Gegensatz zu Schwarz jünger. Primäre Farben wie kräftiges Rot machten blass und verstärkten Hautveränderungen im Gesicht. „Die verfärbten Zähne und die Augenskleren sehen im Kontrast zu der beigen Kleidung weißer aus“, zitierte der Doktor seine beflissene Frau.

Dass man in Beige nicht nur gut, sondern auch stunning aussehen kann, bewies Kamala Harris. Ihre erste Rede als US-Vizepräsidentin hielt sie in cremefarbenem Anzug und seidiger Schleifenbluse, eine Reverenz an die Suffragetten. Twitter flippte aus. Barack Obama hatte es in Beige sogar einmal geschafft, einen Skandal auszulösen. Eigentlich wollte er der Welt mitteilen, wie es mit dem IS und der Ukraine weitergehen sollte. Die Reporter aber kannten nach der Pressekonferenz nur ein Thema, den „Tan Suit“. Und dann wären da noch, bloß einen Steinwurf vom Weißen Haus entfernt, Kayne West und Kim Kardashian. In beiger Lingerie und fleischfarbenem Felljäckchen kletterte Kim 2015 auf einem Erdhaufen herum, in einem Acker des Château d’Ambleville bei Paris. Jürgen Teller hielt drauf. Die Fotostrecke „Kayne, Juergen & Kim“ wurde zur Ikone und monochromer Menocore zu Kaynes Markenzeichen. Heute findet man in seinen Kollektionen kaum ein Model, das nicht in beigem Spandex klebt.

Die meisten Lebewesen aber tragen Beige, um nicht aufzufallen. „Beige ist die natürliche Farbe vieler Tierfelle – die totale Promenadenmischung bei Hunden trägt am ehesten Beige“, wies ein Kollege des Augenarztes hin, Professor Dr. Hermann Krastel, Träger eines Bundesverdienstkreuzes. Wenn Tiere zu schwach, zu langsam oder zu unbeweglich sind, um Angreifer abzuwehren, passen sie sich ihrer Umgebung an. Schneehasen tragen Weiß, Quallen kommen durchsichtig auf die Welt. Die meisten Tiere aber wählen Beige.

„Verzeihung, wollen Sie sich damit tarnen?“, fragte ich einen älteren Herren im camelfarbenen Wollmantel. Er saß auf einer feuchten Bank im Treptower Park und aß einen Sesamkringel.
„Sie meinen, wegen dem Renterbeige?“
„Ja! Genau!“
„Nein, ich finde Beige einfach eine sehr schöne Farbe, vornehm irgendwie.“
„Immer schon?“
„Immer schon. Ich fühle mich damit ein bisschen, als wäre ich in Milano.“ Das „Milano“ sprach er aus wie Luigi, der jüngere Bruder von Mario.

Ich war mit meinem Latein am Ende, mit dem Baileys auch. Warum uniformierten sich diese Senioren, wenn jeder eine andere Agenda fuhr? Jetzt konnte nur noch einer helfen: Axel Buether, größter Farbforscher unter dem Regenbogen. Wann immer Farben im Allgemeinen oder Politoutfits im Speziellen analysiert werden müssen, sitzt Buether im Fernsehstudio. Kürzlich ist sein Buch „Die geheimnisvolle Macht der Farben“ erschienen, das Cover signalrot und sofort vergriffen. Beige aber schien dem Mann ein Anliegen zu sein. Wir verabredeten uns für ein paar Tage später zu einem Krisengespräch.

„Was haben Sie gerade an?“, fragte ich, bekleidet am Küchentisch sitzend.

„Gelb und Grün“, kam es aus Wuppertal zurück, wo Buether lehrt und forscht. „Ökofarben, könnte man sagen. Wir versuchen gerade, wieder etwas netter zur Umwelt zu sein, und zeigen das auch.“
„Warum zum Teufel tragen alte Leute Beige?!“, brach es aus mir heraus.
„Es ist die Aufgabe von Farben, soziokulturelle Zustände nach außen zu signalisieren. Und zwar in allen Kulturen, das sieht man an den Kleidern von Geishas genauso wie an südamerikanischen Gewändern“, antwortete der Professor.
„Und was ist der soziokulturelle Umstand älterer Menschen?“
„Natur bleicht aus, wenn sie älter wird. Hunde kriegen graues Fell, die Haut wird welker, die Haare blasser. Alles, was vergeht, wird grau – kurz davor ist es beige.“ „Deshalb auch ‚naturfarben‘.“
„Richtig. Altern ist eine Art Entfärbung.“
„Aber es zwingt einen doch niemand dazu, sich auch noch so anzuziehen?“, entgegnete ich.
„Nein. Aber Farben lügen nicht. Sie sind eines der ehrlichsten Signale, die wir aussenden. Und Beige ist nun mal ein Grundfarbstoff des Menschen, er integriert uns in die Natur. Es ist eine ‚abwartende‘ Farbe.“
„Den ... Tod abwartend?“
„Sozusagen“, sagte der Professor. „Aber: Wir beobachten, dass sich immer mehr Menschen dem nicht mehr fügen wollen. Sie wehren sich gegen passives Vergreisen und auch gegen die Erziehung des Kollektivs.“

Noch einmal musste ich hinaus. Diesmal war mir dabei etwas unwohl. „Entschuldigung, tragen Sie Beige, weil Sie sich der Natur fügen?“, „Tragen Sie Beige, um mit der Umwelt eins zu sein?“, „Bereiten Sie sich auf das Sterben vor?“ Ich wand mich um die Frage und von einer Apotheke zur nächsten. Es war Samstag, kurz vor neun. Normalerweise tummelten sich hier um diese Zeit die beigen Betagten. Aber außer zwei Herren in braunen Funktionsjacken und einer Dame in silberner Shearlingjacke, die noch dazu metallisch glänzte, sah ich nur bunt Bekleidete. Ich ging die üblichen Parkbänke ab und schaute bei den Schwänen vorbei. Nichts. Vielleicht lag es an Berlin und dem gerade sehr hohen Inzidenzwert wegen der jungen Leute, daran, dass sich die beigetragenden Alten schützten und zu Hause blieben. Waren sie zu gut getarnt oder gerade beim Sport? Auszuschließen war nichts. Vielleicht waren sie auch ganz einfach plötzlich vom Erdboden verschwunden.

 

Erschienen im Winter 2020. Fleisch 58 – Verschwinden – ist bestellbar im Abo oder als Einzelheft unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! 

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