Schnell noch ein paar Buchtipps
Mein Lesejahr 2019 begann großartig: Masha Gessens "Die Zukunft ohne Geschichte" über das Russland von heute und wie es dazu geworden ist, hab ich vor allem aufgrund seiner Erzählweise sehr gemocht. Entlang von vier Biographien beschreibt es von innen heraus das Land und wie es sich ändert. Ich hab jetzt zumindest eine Ahnung davon, was es heißt, wenn dich ein altes System ausspuckt und ein neues noch nicht so viel hat, an dem du dich festklammern kannst. Mit diesem Buch versteht man ein bisschen besser, warum Putin sich schon so lange halten kann.
Ich blieb dann gleich in Russland, ein bisschen in die Zukunft gebeamt aber, weil "Manaraga. Tagebuch eines Meisterkochs" von Vladimir Sorokin im Jahr 2037 spielt. Europa ist mal wieder zerstört, aber ein paar Reiche gibt es noch und ihr aktueller Lieblingsspleen ist es, Türme von Fleisch über brennenden Klassikern der russischen Literatur grillen zu lassen. Selbst der wenig subtile Sorokin war schon subtiler, gut ist das Buch trotzdem, weil Sorokin sich wie gewohnt bei seinem Plot nichts scheißt, dafür aber umso genauer schreibt. Noch besser und auch von ihm ist übrigens „Der Schneesturm“, das auch zum Glück auch noch in vielen Buchhandlungen herumliegt. Es tut so, als wäre es im 19. Jahrhundert geschrieben (hallo, Tolstoi), spielt aber ebenfalls in der nahen Zukunft, was trotz des eigentlich engen Settings gehörig verwirrt. Für alle, die etwas für klirrend kalte Sprache und Phantastik übrig haben.
Die literarischen Essays von Enis Maci in "Eiscafé Europa" sind großartig, weil sie keiner Formvorlage folgen und auch nicht ständig schreien: Schau mal, was ich für dich entdeckt hab! Besonders jener über zwei junge Frauen bei den Identitären ist super.
"Die Politische Ökonomie des Populismus" von Philip Manow hat mir unter anderem gezeigt, dass die Finanzkrise auch in Deutschland mehr Schaden angerichtet hat, als man oft glaubt: Auch gut verdienende Menschen mit vernünftigen Jobs in stabilen Gegenden haben seither Angst, dass es so nicht weitergeht, und docken bei der AfD an. Ein Baustein unter vielen für die Erklärung dessen, was gerade passiert.
Ein paar andere liefern Ivan Krastev und Stephen Holmes in "Das Licht, das erlosch". Ihre Kernthese: Osteuropa ist nach 1989 blind wie eine Gruppe frisch Verliebter den Versprechungen des Westens (Kapitalismus! Wohlstand! Mitbestimmung! Fairness!) aufgesessen, während vor allem die USA sich langsam davon verabschiedet haben (von den Versprechungen des Westens, Anm.). Und beides half den Populisten. Für alle, die etwas für den großen Bogen übrig haben.
Extrem gefreut habe ich mich über einen Zufallsfund (das Cover!): Liviu Rebreanus "Der Wald der Gehenkten". Es geht um den Irrsinn des Ersten Weltkriegs, hat aber so viele psychologischen Ebenen, dass ich mich beim Lesen ständig bremsen musste, um nicht dauernd eines der Details zu übersehen, die zur eigentlichen Frage des Buches hinführen: Was ist der Mensch? Zugegebenermaßen eine große Frage, aber das darf ja auch mal sein. In Rumänien ist das Buch jedenfalls ein Klassiker der Moderne. Für alle, denen "Der Mann ohne Eigenschaften" zu lange, "Im Westen nichts Neues" zu sehr Schule und der "Radetzkymarsch" zu sehr Mainstream ist.
Kurzer Einschub: Als Leserin habe ich ein undogmatisches Verhältnis zu Hypes. Manchmal kippe ich mit der Masse auf die so called Must-Reads der Saison rein, manchmal machen mich aber die Superlative der Rezensionen trotzig, weil ich mir eigentlich gerne ein eigenes Urteil bilde, was aber verdammt schwer wird, wenn du dir nach den Rezensionen jedesmal einen neuen Homer erwartest. Mindestens. Okay, mein Problem, nicht eures. Bei Sally Rooney, 29 und Shooting Star der anglo-amerikanischen Literatur, war ich dann doch zu neugierig. Zuerst las ich "Normal People": Die schüchterne, schlaue Marianne und der beliebte Connell halten in der Schule ihre Beziehung geheim, weil's irgendwie komisch ist, dass Connells Mutter bei Mariannes Familie putzt. Als beide dann studieren, wird es noch komplizierter. Die Herkunft bekommt mehr Gewicht, je näher das Erwachsensein rückt. Ein paar Monate später las ich Rooneys erstes Buch, "Conversations with Friends", das nun auch auf Deutsch erschienen ist. Zeitlupenartig verzögert begleitet man zwei Unifreundinnen, deren Leben durcheinander gerät, als sie ein etabliertes, irgendwie beeindruckendes Paar kennenlernen, das einen kleinen Vorsprung im Leben hat. Es gibt Affären, toll beschriebenen Sex und jede Form der Kommunikation, wie sie heute ständig parallel verläuft. Mich hat das alles dennoch nicht so umgehauen, wie viele andere (hallo, Erwartungen!), aber das Lebensgefühl mit Anfang 20 trifft es schon ziemlich gut. Scheiße, ist das alles ernst. Gutes Geschenk, wenn man klug und sexy wirken will und die Beschenkten sonst lieber Serien schauen (Apropos, für alle, die lieber auf den Film warten: die Serie ist gerade im Entstehen).
Gemocht und sehr schnell gelesen hab ich Angela Lehners "Vater unser" über eine sehr spezielle Heldin, wahrscheinlich auch, weil es mich sprachlich oft an Herrndorfs Tschick erinnerte. Gut unterhalten fühlte ich mich auch von Tonio Schachingers Jugo-Fußballer-Geschichte "Nicht wie ihr".
Richtig begeistert war ich von Akwaeke Emezis "Süßwasser". Es erzählt davon wie die junge Nigerianerin Ada zum Studieren in die USA kommt und macht das über verschiedene Stimmen, hier Geister genannt. Das ist weder anstrengend, noch streberhafte poetische Pose, sondern macht einfach Sinn, weil Ada eine multiple Persönlichkeit besitzt. Ein wildes, freies Buch, das mich beim Lesen aus dem Alltag rauskatapultiert hat.
Sehr hingerissen (und mitgenommen) war ich auch von Juan S Guses "Miami Punk", einfach schon, weil diese Dystopie ein so gigantomanisches Projekt ist, das bereit ist, auf so vielen Ebenen zu scheitern, was es dann aber nicht tut. Sie spielt in der Nahen Zukunft (schon wieder), in Miami, das nicht mehr am Meer liegt (Klimawandel), und sie beschäftigt sich ausgiebig mit Computerspielen, die in meinem Leben exakt null Rolle spielen, mich hier aber faszinierten. Für alle, die Bock haben, sich auf etwas Irres einzulassen.
Ich liebe und verehre die schon verstorbene US-Autorin Lucia Berlin, weil in ihren Geschichten so viele kaputte Leben vorkommen und weil sie so schnörkellos, aber nie hoffnungslos übers Suchen und Versuchen und Verzweifeln schreibt, übers Stolpern und Taumeln und die Liebe. Im Kampa Verlag ist nun ihr Kurzgeschichten-Band „Abend im Paradis“ erschienen, die Übersetzung von Antje Rávic Strubel ist großartig und das Design ist auch super (meine englische Ausgabe sieht aus, als würde sie Tipps für die Rosenzucht enthalten). Für alle, die das Große im Kleinen erkennen können, nicht allzu viel Text brauchen, um glücklich zu sein, und insgesamt versöhnliche Menschen sind. Amen.
Enorm beeindruckt hat mich auch "Her body and other parties" von Carmen Maria Machado, das auf Deutsch "Ihr Körper und andere Teilhaber" heißt. Vielleicht hat mich in jüngster Zeit keine Autorin so niedergeschmettert wie die Amerikanerin, was auch daran liegt, dass Konventionen zertrümmern offenbar ihr einziger Leitfaden ist. Auch bei ihr haben mich Rezensionen davor zunächst abgeschreckt. Ich mag es nicht, wenn man mir sagt, dass ich etwas vor allem deshalb lesen muss, weil es darin endlich mal um Frauen geht, um ihren Sex, um Macht und Gewalt, aber das Ästhetische drum herum so gar keine Rolle mehr spielt, ich fühl mich da schnell erpresst (ja, mein Problem, nicht eures). Jedenfalls: Machado ist eine Göttin, ihr Feminismus das normalste der Welt, ihre Geschichten große erzählerische Kunst. Mich haben sie beim Lesen regelrecht durch die Welt geschleudert, es geht wild und sanft und fantastisch und lakonisch dabei zu, es ist brutal und es ist Porno und irre und eine scheißpathetisch elementare Erfahrung insgesamt. Nicht aufschlagen vorm Einpacken, okay?
Wer nur ein einziges Buch über den Klimawandel lesen will oder Menschen, die den Ernst der Lage noch nicht kapiert haben, den letzten Schubbs geben will: Kauft "Die unbewohnbare Erde" von David Wallace-Wells. Das Buch ist journalistisch bestens aufbereitet und erklärt ganz ruhig, was der Worst Case wirklich bedeuten würde. Fies, weil es am Anfang Grund zur Hoffnung verspricht. Die kommt aber nicht.
Ma Jian zählt zu den größten chinesischen Schriftstellern, nur dass er China seit Jahrzehnten nicht mehr betreten darf. Sein Roman "Peking Koma" hat mir die Geschichte zum Tiananmen-Massaker gegeben, einem zentralen Bild meiner Kindheit. In "Traum von China" schreibt er das heutige China ein Stück in die Zukunft (schon wieder!). Eifrig ist das Land damit beschäftigt, den chinesischen Traum von ökonomischem Erfolg und persönlichem Wohlgefühl Wirklichkeit werden zu lassen, wobei Wirklichkeit eine relative Angelegenheit ist. Der Anti-Held der Geschichte ist ein Funktionär, der zwischen seinen Liebschaften, seinen Erinnerungen und seinen Vorschriften hin- und hergerissen ist. Manche sagen, für einen Roman, der die Lahmlegung eines Riesenlandes zeigen will, ist er zu harmlos geworden. Es reicht aber, um ein bisschen besser zu verstehen, warum Hongkong sich dagegen auflehnt, auch so zu träumen, wie es hier vorgesehen ist. Und lustig ist es auch.
Lustig hatte ich es auch mit "Zenos Gewissen" von Italo Svevo. Ja, ein Klassiker. Er spielt in Triest, was sowieso nicht der schlechteste Ort ist, es geht um Liebe und Affären, um Freundschaften, Gewohnheiten und ums persönliche Ansehen, es geht ums Geschäftemachen und Spekulation, um Schlitzohrigkeit und Selbstaufgabe. Vor allem aber geht es darum, wie gut wir darin sind, uns den derbsten Irrsinn im Nachhinein schön zu reden. Für Ironiker.
Wer jemanden kennt, der demnächst nach Georgien fährt, hat die Qual der Wahl: Ich mochte besonders gerne Archil Kikodzes "Der Südelefant", weil es dabei Ullyses-ähnlich durch Tbilisi mäandert, sehr viel gelacht hab ich bei Lasha Bugadzes "Der Literaturexpress", der zwei sehr ungleiche georgische Schriftsteller durch Europa schickt, während Stephan Wackwitz in "Die vergessene Mitte der Welt" umgekehrt in Essays beschreibt, wie ein Deutscher Georgien erleben kann (ein bisschen Altherrenblick inklusive), was mir vor allem für die Architektur des Landes die Augen öffnete, Otar Tschiladses "Der Korb" zeigt ein fantastisches Georgien, das es vielleicht nie gegeben hat, und Zaza Burchuladzes "Touristenfrühstück" fragt von Berlin aus, warum dieses komische Tbilisi trotzdem Heimat bleibt. Lew Tolstois "Hadschi Murat", die Erzählung über den legendären kaukasischen Tschetschenen-Führer und seinen Kampf gegen den Zaren, ist touristisch vielleicht nicht ganz auf der Höhe, aber einfach wahnsinnig gute Literatur. Geht immer. Vor allem für alle, die gerne Helden sein würden.
Die beste, mich wirklich heftig erwischende Lyrik, die ich heuer las, gibt es leider noch nicht in deutscher Übersetzung: "Night Sky with Exit Wounds" von Ocean Vuong. Sein Roman "Auf Erden sind wir kurz grandios" ist aber auch toll, weil er einen neuen Ton für Zerrissenheit findet.
Vielleicht ist da ja noch was dabei.
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